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Bruderschaft
von Hermann Lutze

LeerEs ist eine wenig beachtete Tatsache, daß sich die Christen im Neuen Testament als „ B r ü d e r ” anreden. Kaum war durch das Erlebnis von Damaskus „Saulus zu einem Paulus geworden, wurde er von dem Christen Ananias „lieber Bruder Saul” angesprochen (Ap. Gesch. 9, 12). Später kam er nach Jerusalem, Wo ihn alle Christen als den Feind ihres Herrn kannten. Aber auch ihnen war er Bruder, und als die Juden ihm nach dem Leben trachteten, halfen ihm die Brüder fort. Was liegt in den paar Worten: „die Brüder geleiteten ihn” (Ap. Gesch. 9, 30)! Wohin auch immer Paulus später kam auf seinen Reisen - die „Brüder” nahmen ihn gern auf (Ap. Gesch. 21, 12), Welche verhaltene Freude spricht aus dem Bericht von der Seereise nach Rom: „da - in Puteoli - fanden wir Brüder” (Ap. Gesch. 28, 14). In allen seinen Briefen kennt Paulus keine andere Anrede als „Liebe Brüder”. Besonders wenn er ein eindringliches Wort sagen will, setzt er diese Anrede hinzu: „ich ermahne euch, liebe Brüder!” (Röm. 12, 1; 15, 20; 1. Kor. 1, 10 u. a. m.). Darum sind auch die schärfsten Zureden nicht ohne einen tiefen, warmen Unterton; hier wird nicht geschulmeistert, hier waltet nicht kalter, überheblicher Richtgeist, sondern hier redet die brüderliche Liebe, die gerade dann liebt, wenn sie wehe tun muß. Die Brüder „sind von Gott geliebt” (Anrede in den beiden Thessalonicherbriefen); darum können sie nicht anders als sich auch untereinander lieben. „Habt die Brüder lieb!”: schöner kann es Petrus nicht sagen und schöner kann es Luther nicht übersetzen (1. Petr. 2, 17). Nur wer seinen Bruder liebt, bleibt im Licht” (1. Joh. 2, 10).

LeerEs ist durchaus nicht gleichgiltig, mit welchen Namen sich die Menschen anreden. Die Namen sind nicht von außen den Dingen aufgeheftet, sondern ihrem Wesen abgelauscht. Überhaupt beruht die Namengebung auf göttlicher Anordnung: Gott selbst brachte im Paradiese dem Menschen die Tiere, daß er sie „mit Namen nennete” (1. Mos. 2, 19 und 20). Indem der Mensch den Dingen den Namen gibt, schafft er die Welt nach, die Gott durch Sein Wort ins Leben gerufen hat.

LeerDoch der Mensch kann nicht nur die Kreatur mit Namen nennen, er kann auch seinesgleichen Namen geben; so gibt er dem Weibe, das ihm Got zur Gefährtin geschaffen hat, seinen Namen (1. Mos. 2, 23). Dadurch ist eine Beziehung gegeben, in der auch noch andere Beziehungen beschlossen sind: Sohn und Tochter, Vater und Mutter, Bruder und Schwester. In diesen Beziehungen vollzieht sich die erste und ursprünglichste aller Ordnungen, die Gottesordnung der Familie.

LeerWas bedeutet es nun, daß die Christen im Neuen Testament sich mit einem Namen, der aus dieser Ordnung kommt, anreden, daß sie sich „Brüder” nennen? Es mag doch auf den ersten Blick hin seltsam erscheinen, daß sie sich keine neuen Namen zulegen! Gerade eine Zeit, die so erfinderisch ist in der Wahl neuer Namen wie die unsere, könnte besonderen Anstoß daran nehmen. Und doch wird darin, daß die Christen sich „Brüder” und nicht anders nennen, ein ganz unerhörtes und einzigartiges Geschehen offenbar. Der Brudername des Neuen Testamentes zeugt von dem Anbruch neuer Schöpfung. Es ist ja doch nicht so, als ob die Schöpfungsordnungen unversehrt geblieben wären. Durch den Sündenfall ist eine tiefgreifende Verderbnis in die gesamte Menschheit und über die Menschheit hinaus in die ganze Kreatur hineingekommen. Seitdem sind auch die ursprünglichen schöpfungsgemäßen Beziehungen der Menschen in der Familie verstört und zerstört. Auch vom vierten Gebot gilt es, daß es zur Erkenntnis der Sünde führe. Wenn nun die Christen des Neuen Testaments sich „Brüder” nennen, so tritt darin die ungeheuere Tatsache zu Tage, daß nun durch sie, die Christen, das von Gott geordnete, aber durch die Sünde verderbte Verhältnis der Bruderschaft Wirklichkeit werden soll in der Gemeinde. Allerdings nicht durch Fleisch und Blut! Sondern „wer den Willen tut Meines Vaters im Himmel, der ist Mein Bruder...”

LeerDie neue Schöpfung, in der die alte wiederhergestellt werden soll, ist angebrochen in


Jesus Christus.

LeerEr, „des ew'gen Vaters einig Kind” ist unser aller Bruder geworden, auf daß wir durch Ihn Gottes Kinder und untereinander Brüder würden. Im Stalle zu Bethlehem beginnt Seine Bruderschaft. Er wird in allen Stücken uns gleich - nur nicht in der Sünde. Er ist unser Bruder in Hunger und Durst, in Hitze und Kälte, in Kummer und Not, in Schmerz und Leid. Er ist unser Bruder im Sterben, ja, Er ist unser Bruder im Grab. Indem Er Mensch war, war Er unser Bruder - nicht als Herr, sondern als Diener (Luk. 22, 27).

LeerIn Seiner Bruderschaft gründet auch unsere Bruderschaft. Wir haben das Bruderschaftsverhältnis der ursprünglichen Schöpfung zurückgewonnen durch Ihn, der der Anbruch der neuen Schöpfung ist. Davon kündet Johannes: „Wir wissen, daß wir aus dem Tode in das Leben gekommen sind; denn wir lieben die Brüder!” Die brüderliche Liebe ist der Erkenntnisgrund unserer Erlösung. An dem Aufbrechen dieser Liebe wird sichtbar, daß wir den Mächten der Finsternis entrissen sind.

LeerZur Bruderschaft mit dem Haupte, mit Christus, und Seinem Leibe, der Gemeinde, kommen wir aber nur durch eine neue Geburt. Wir müssen von neuem geboren werden aus Wasser und aus Geist. Gerade an der Notwendigkeit neuer Geburt wird deutlich, daß es sich hier wirklich um neue Schöpfung handelt. Alle eigenen Anstrengungen, Bruderschaft zu verwirklichen, sind eitel und nichtig, wenn nicht jene neue Geburt an uns geschehen ist, durch die wir mit all' unserer Sünde Gottes Kinder und untereinander Brüder werden. Alle Organisation von Bruderschaft läuft in's Leere, wenn sie nicht wirklich aus der Erfahrung des neuen Werdens stammt, das uns in Jesus Christus heimgesucht hat „ohn' unser Verdienst und Würdigkeit”.

LeerWem aber das Geschenk der Bruderschaft im Haupte Christus mit dem Leibe, der Gemeinde, zuteil geworden ist, der muß nun allerdings mit zitternden und zagenden Händen Bruderschaft zu bauen versuchen; denn er weiß, daß auch er dereinst gefragt werden wird: „Wo ist dein Bruder Abel?” Wehe ihm, wenn er dann sagen muß: ich weiß es nicht! Doch auch er wird die Bruderschaft nicht anders verwirklichen können als sein Meister: indem er des Anderen Knecht und Diener wird. Die Liebe Christi drängt auch ihn auf den unteren Weg. Sie wandelt die Hochmutsgestalt dieser Welt um in die Demutsgestalt des Gottesreiches.

LeerWo Bruderschaft lebendig geworden ist, kann sich keiner der Bereiche des Lebens dem Anspruch der brüderlichen Liebe entziehen. Selbst die äußerlichste Ordnung will von ihr durchdrungen werden. Wer behauptet, man müsse Äußeres und Inneres, Form und Inhalt in der Kirche Christi voneinander scheiden, der lehrt und handelt irre. Er kommt nicht aus dem Geiste dessen, der als Gottes Kind unser Bruder wurde, um uns zur Gotteskindschaft und Menschenbruderschaft zu berufen. Jesus Christus ging ja auch in das Äußerste hinein. Seine Menschwerdung war eine einzige große Ent-Äußeruug. Auch wir sollen uns ent-äußern und, uns ent-äußernd, alle, auch die äußeren Bereiche dieses Lebens einholen und heimbringen in Seine wandelnde und umschaffende Macht; denn, siehe, Er macht alles neu!

Das Gottesjahr 1935, S. 91-94
© Bärenreiter-Verlag Kassel (1935)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-02-10
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