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Mutter Kirche
von Esther von Kirchbach

Meine Seele erhebet den Herrn
Und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes;
Denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
Siehe, von nun an werden mich selig preisen Kinder und Kindeskinder.

LeerMit diesem Lobgesang wandert Maria das Gebirg entlang, das göttliche Kind unter ihrem Herzen, auf dem Wege zur Freundin, um ihr in ihrer schweren Stunde zu helfen. Das Lied verstummt nicht mehr auf ihren Lippen, nicht als das Kind im Elend geboren wird und nicht als Könige vor ihm niederknien. Es klingt in ihr, als sie glaubt dieses Kind verloren zu haben und sich aufmacht, es in Angst zu suchen, und es tönt in ihr fort, als sie es in seinem Eigentum wiederfindet. Sie singt es im Herzen, als dieser Sohn groß wird und von ihr geht. Die Verheißung dieses Liedes drängt ihr bei der Hochzeit zu Kana die erste christliche Fürbitte auf die Lippen und läßt sie in Geduld warten, als die Erfüllung sich verzögert. Das Lied bleibt bei ihr auch in der bittersten Stunde unter dem Kreuz, und die Lippen formen es noch unbewußt, als sie im Schoße den Sohn der Schmerzen hält. Sie singt es jubelnd über den Auferstandenen, abschiednehmend von dem gen Himmel Fahrenden, wartend auf den, der einst wiederkommen wird die Welt zu richten.

LeerUnd so stark wird die erste Gemeinde Christi dieses Lied gelernt haben, daß Maria vor ihren sehenden Augen zum Sinnbild der Kirche selbst wurde, der Kirche, die das göttliche Wort immer wieder unter ihrem Herzen tragen und in Schmerzen gebären muß, der Kirche, die mit diesem göttlichen Wort, dem sie Mutter und Dienerin zugleich ist, durch alle Niedrigkeit und Verfolgung, durch alle Herrlichkeit und Macht, durch alle Sehnsucht und Erfüllung hindurch muß.

LeerUnd wenn wir unter den vielen lieblichen und sehnsüchtigen Marienbildern des Mittelalters die Schutzmantel-Madonnen herausheben, diese überlebengroßen, gleichsam über Zeit und Raum herauswachsenden Gestalten, unter deren Mantel sich das Volk drängt, dann wissen wir, das ist nicht mehr Maria, das ist sie, deren Verheißung und Sinnbild Maria war, unsere Mutter Kirche. Weit geht ihr Mantel um alles Volk. Ich werde nie das verblichene Wandbild einer Regensburger Kirche vergessen, vor dem ich einen Vormittag stand und von dem ich nicht wieder los kam. Das Antlitz der Mutter fast unkenntlich geworden, vergehend in der getünchten Wand, aber unter dem Grau ihres Mantels lebendig, wie wenn sie heute lebten, die einzelnen Köpfe hervorkommend, König und Bettler, Handwerker, Bauer, Krieger, die Mutter mit dem Säugling, das Mädchen mit dem Kranz im Haar und die alte Frau mit der Krücke. Um sie alle gebreitet der Mantel, den einzelnen schützend und vor Irrwegen behütend und alle zusammenschließend.

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LeerDas gilt noch heute. Aber es ist unsere Not, daß wir unsere Mutter Kirche so nicht mehr sehen. Zu arg ist ihre äußere Erscheinung zerrissen, zu jämmerlich ist sie zum Spott geworden, zu trostlos der Anblick. Wie soll sie uns trösten, uns helfen können, die selbst so zerstört, so verwüstet, so zugrunde gerichtet ist? Ist es nicht so, daß unsere Hände an ihr bauen, sie heilen wollen, anstatt daß wir uns von ihr heilen lassen könnten?

Leer„O ihr alle, die ihr hier vorübergeht, sehet, ob ein Schmerz ist gleich meinem Schmerze.” Ist es nicht, als ob diese Worte aus den Klageliedern, die der Schmerzensmutter so oft in den Mund gelegt worden sind, heute aus dem armen Munde der Kirche kämen, ein Ruf, der alle anhalten läßt, auch die, die bisher „vorübergingen” ohne zu sehen?

LeerUnd da geschieht etwas Merkwürdiges. Wenn sie uns so anruft, wenn sie uns so zwingt, ihr, der Zerschlagenen ins Gesicht zu sehen, bei ihr anzuhalten, bei ihr still zu stehen, dann holt sie uns mitten an ihr Herz. Und während wir ihr helfen wollen, hilft sie uns, und während wir um sie trauern, tröstet sie uns, und während wir erschrecken, daß sie so schwach und hilflos geworden sei, daß sie nicht mehr imstande sei den Mantel auszubreiten um das lebendige Leben, während wir noch meinen, wir müßten statt dessen unsere armen kleinen Arme auftun, hüllt sie uns doch in ihren Mantel und läßt uns im Elend erfahren, wie sehr sie behüten kann. Sie lehrt uns die Gesänge der Jahrtausende, und auf einmal sind wir geborgen in ihrem Mantel mit den Christen aller Zeiten vor uns. Sie lehrt uns durch den Tag und durch das Jahr an ihrer Hand zu gehen, und auf einmal ist diese Hand so zwingend, daß sie den Einzelnen und den Einsamsten zur Gemeinschaft bringt. Sie bringt uns das Wort, ihren liebsten Sohn, sie bringt es den Ohren und dem Verstand in ihrer Sprache, und allen Sinnen und dem Herzen in ihren Sakramenten, sie läßt uns teilhaben an ihrem Leid, das größer ist als unser eigenes, und lehrt uns durch dieses Leid die Liebe zu ihr. Und sie lehrt uns begreifen, daß sie immer wieder auf der Erde verraten werden wird von denen, die ihr dienen sollten, daß sie immer wieder auf der Flucht ist wie Maria auf der Flucht nach Ägypten, daß wir sie aber begleiten dürfen auf dieser Flucht und teilhaben dürfen wie Joseph an dem kostbaren Geheimnis ihres Schatzes, den sie zu schützen hat.

LeerDie Legenden erzählen, daß Maria mit dem göttlichen Kind auf dem Arm durch die Wiesen geht und der Hirte, überwältigt von so viel strahlender Schönheit, das Beste nimmt, was er hat, und es knieend der Mutter mit dem Kinde darbringt. So kann es geschehen, daß wir auf unseren Wegen - von der Mutter Kirche überwältigt und von ihrer unzerstörbaren Schönheit gefangen genommen - unser armes Leben in beide Hände nehmen und es ihr hinhalten, ihr zu dienen, bei ihr zu stehen in ihren Schmerzen, zu ihr zu halten in ihrer Zerrissenheit, mit ihr zu warten auf die endliche Herrlichkeit, in der der Sohn wiederkommen wird, der Mutter die Krone auf das Haupt zu setzen.

Das Gottesjahr 1935, S. 69-71
© Bärenreiter-Verlag Kassel (1935)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-15
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