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Die alte Dielenuhr
von Rose Matz

LeerJeden Sonntagmorgen ziehe ich die alte Dielenuhr auf. Wenn ich es einmal vergesse, so ist es fast, als hätte ich einen Teil der sonntäglichen Morgenandacht vergessen. Während die beiden schweren grauen Steingewichte leise gegen die eichenen Wände des Gehäuses schlagen, fühle ich eine tiefe Verbundenheit mit dem vertrauten Angesicht dieser Uhr, die ja nichts anderes ist als der sichtbar gewordene Sternenlauf. Mag sein, daß jedes unentrinnbare Messen der Zeit zum Dämon werden kann, der uns in einen unfruchtbaren Leerlauf hetzt. Hier aber geschieht etwas anderes. Das weiche regelmäßige Ticken ist wie ein Unterstrom, der alles Geschehen begleitet, ist wie der stille Atem des Raumes, in dem die alte Uhr steht. Sie hat viele Geschlechter überdauert, hat vielen die Stunde der Geburt und des Todes angezeigt, wird auch einmal das letzte Stündlein der Menschen, in deren Obhut sie jetzt lebt, anschlagen mit ihrer hellen silbernen Glocke, deren Nachhall noch lange im Zimmer schwingt, während die Zeiger schon weiterrücken. Ist sie uns deshalb so lieb, weil die Augen der Menschen, die uns vorausgegangen, auf ihr geruht haben? Weil Hände, an die wir mit Ehrfurcht denken, ihr Woche um Woche denselben Dienst erwiesen wie nun wir? Auf die Zehen muß man sich stellen, um hinaufzureichen zu ihrer Höhe. Weit und barock geschwungen ist das Gehäuse, in dem das jüngste Geißlein reichlich Platz gefunden hätte. Wo im Norden mag die Eiche gewachsen sein, aus deren gesundem Stamm das Kunstwerk geschnitzt wurde? Wo mag der Stein geruht haben, der nun dienend unermüdlich auf- und niedergeht wie die liebe Sonne?

LeerAn jedem Sonntag muß ich denken: auch du gehst unaufhaltsam deinem letzten Tag entgegen, wenn auch die Hände, die zum letzten Male deine Gewichte aufwinden, noch ungeformt in dunkler Zukunft ruhen. Du bist schon wieder eine andere als vor acht Tagen. Unmerklich nützen sich deine kunstvollen Räder ab, das Holz dunkelt und verfällt still unter seiner Oberfläche, die Steine reiben sich langsam zu Tode, durch einen im Gehäuse klaffenden Riß frißt sich der Staub. Doch warum sage ich dir das? Dein Wissen scheint so viel stiller und größer, während du getreu deinen einfachen Dienst versiehst. Trägst du doch an der Stirn deines klaren Angesichtes ein kindliches Bild vom Sündenfall. Eva reicht Adam den Apfel, er führt ihn zum Munde, und um den früchtebeladenen Baum windet sich im Takt des Pendels die Schlange. Während ich noch an den Zügen von Adam und Eva hänge, fällt mir ein Bild von Fra Angelico ein. Über den beiden trostlosen Menschen öffnet sich der Himmel und zwei weite, gelockerte Hände erscheinen. Ein Strahl entströmt ihnen hell und fest wie die Klinge eines Schwertes. Aber dieses Schwert trifft nicht die Sünder, sondern geht über sie hinweg mitten in das Herz der heiligen Jungfrau, in einem lichtdurchfluteten Raum, der von leichten Säulen getragen wird, neigt sich der Engel Gabriel voll Ehrfurcht vor Maria, die still erschrocken seine Botschaft hört. Zeit und Raum sind überwunden durch ewiges Geschehen.

LeerKann ich deshalb nur am Sonntag zu dem Schlüssel greifen und das Gehäuse der Uhr öffnen? Jeder andere Tag liegt so weit ab vom Paradies; doch am Sonntag tut sich eine Tür auf, als senke der Engel das Schwert, und für kurze Zeit weht es aus jenen Bereichen herüber: so geht die Zeit zur Ewigkeit.

Das Gottesjahr 1951 (1942), S. 114-116
© Johannes Stauda-Verlag zu Kassel (1951)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-12-07
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