titel

Startseite
Jahrgänge
1938
Autoren
Stichworte
Neue Seiten

Das Vaterunser als Weg
von Hermann Schwemer

LeerDas Gebet des Herrn gehört zu den Grundbestandteilen auch des einfachsten christlichen Gottesdienstes. Christen, die sich dem geformten Gebet der Kirche anvertrauen, andere, die das „freie Gebet” vorziehen, alle treffen sich im Beten des Vater-unser. Auch allerpersönlichstes Beten findet in ihm seinen Gipfel. Kommt das nur daher, daß wir wissen: Es ist das Gebet des Herrn, von ihm eingesetzt? Oder bekundet sich seine Herkunft vom Herrn der Kirche nicht auch in seinem Wesen selbst und läßt es aus sich selbst heraus unentbehrlich werden? Was ist die geheimnisvolle Kraft dieses Gebetes, die wir bewußt oder unbewußt empfinden?

LeerDie Antwort ist die: Das Unser-Vater ist die zentrale geistliche Übung der Christenheit und des einzelnen Christen. Betend ordnen wir hier unser gesamtes Leben in einer nur dem Christusglauben eigentümlichen Weise Gott zu. Wandelnde und heiligende Wirkung strahlt davon zurück in unser Leben.

LeerUm das zu verdeutlichen, bedenken wir zunächst das Wesen des In feste Worte gefaßten Gebetes überhaupt.

LeerIm achten Kapitel des Römerbriefes heißt es: „Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sichs gebührt, sondern der Geist selbst vertritt uns aufs beste mit unaussprechlichem Seufzen.” Unsere Gedanken und unsere Sprache sind so mit dem Wesen des natürlichen Menschen, der nichts vernimmt vom Geiste Gottes, verwoben, daß sie zu einem an das Ohr Gottes dringenden Gebet unfähig sind. Paulus spricht nun davon, daß der Heilige Geist uns vertritt mit Seufzern ohne Worte. Alles unerlöste Beten muß verstummen. Unser Anliegen aber wird aufgehoben im Beten des Heiligen Geistes, der sich unserer Schwachheit annimmt. Es wird aufgehoben in doppeltem Sinne. Es kommt zu Ende und es wird, verwandelt, auf eine höhere Ebene gehoben. Es geht den Weg des Kreuzes und der Auferstehung. Nicht etwas durchaus Anderes und Fremdes bringt der Heilige Geist für uns vor Gott, sondern die ganze Breite und Fülle unserer Anliegen, auch der kleinsten, die ja alle unter der Verheißung stehen: „Bittet, so wird euch gegeben.”

LeerDie Realität unseres Lebens ist in höchstem Maße beteiligt und hat Teil an dem Weg der Wandlung. Dies aber bezeugt sich in einer Erfahrung der Kirche, die auch der einzelne Beter hin und wieder ahnungsweise machen kann: Als Gnadengeschenk des Heiligen Geistes formen sich Worte, klar gebaute Sätze, die das nach dem Sinn des Geistes gewandelte Anliegen in sich tragen und in ihrer keuschen Verhaltenheit Hinweis auf das Unaussprechliche sind. In ihnen kann der Atem gelassen und zugleich inbrünstig ausströmen, so wahr solches in der Zucht des Geistes geordnete Beten danach drängt, leiblich gesprochen zu werden. So betet denn der Mensch mit Leib und Seele, und beide haben Anteil an den verborgenen Wirkungen solchen Geschehens.

Linie

LeerDie Form solchen Gebetes ist nicht Nebensache, nicht Ausdruck eines besonderen Bedürfnisses nach Schönheit oder logischer Ordnung, sondern Ausdruck des Sieges der Ordnung des Heiligen Geistes über die Unordnung des Dichtens und Trachtens des menschlichen Herzens. Die Knappheit der Gebete der Kirche kommt nicht daher, daß man meint den Geist in magische Formeln bannen zu können, sondern daher, daß durch das Aufgehobenwerden in die höhere Ebene alles Unwesentliche, Uneigentliche abgefallen ist. Das Wesentliche eines Anliegens hat sich mit der Mitte unseres Wesens vereint, und beides zusammen ist gegenwärtig geworden vor Gott. Es ist echte meditatio geschehen.

LeerAus solchen Vorgängen sind die großen Gebete der Kirche entstanden. Auch ihnen eignet deshalb die Kraft, unser Anliegen auszuheben in das Beten im höhern Chor und unser Leben unter die wandelnde Wirkung des Heiligen Geistes zu stellen. Ganz verschieden ist das Maß dieser Kraft. Wer aber auch nur ahnungsweise etwas von solchen Zusammenhängen gespürt hat, der hat auch das Geheimnis des Unser-Vaters geahnt, das in seiner Vollkommenheit alles Beten der Kirche überwölbt und überhöht.

LeerEs ist nicht um der klaren Ordnung der Gedanken willen so, daß das Gebet in seinem ersten Teil von göttlichen, im zweiten von menschlichen Dingen handelt. Nicht um der ästhetischen Wirkung willen kehrt das „Dein” des Anfangs nach dem „Unser” des zweiten Teils am Ende wieder. Nicht aus pädagogischen Gründen sind die Sätze so kurz, daß sie sich aufs Leichteste einprägen. Diese Vorzüge sind nur Früchte einer in der verborgenen Mitte wirkenden schöpferischen Kraft, von der her Gedanke, Wort und Gestalt gleicherweise bestimmt sind. Das Gebet ist nicht erdacht und nicht künstlerisch gestaltet. Es ist ein geistlicher Weg, erbetet auf dem Wege des Menschensohnes über diese Erde. Denn der Weg Jesu Christi ging von der Höhe der Himmel herab auf die Erde, auf der es um die Herrschaft Gottes geht. Der Weg führt bis in die Mitte der alltäglichen Wirklichkeit, die in der vierten Bitte bezeichnet ist. Mitten durch sie hindurch geht sein Weg wieder zum Vater. Er trägt den Fluch der Schuld in der Kraft der Vergebung, die Not der Versuchung in der Kraft des Gehorsams. In seinem Kreuz ist der Fürst dieser Welt gerichtet. In dem Gebet nun, das er den Jüngern gibt, stellt er sich brüderlich ganz in ihre Not und Schuld und zieht sie zugleich auf seinen Weg.

LeerDenn damit beginnt doch der Weg, den wir mit ihm gehen, daß wir mit Christus und durch ihn allein „Gott recht erkennen, von Herzen Vater ihn nennen.” Mit ihm beheimaten wir unser Herz in den Himmeln. Da wir aber auf der Erde beten, erflehen wir umso stärker das Kommen der Herrschaft Gottes in alle Bereiche. In dem dreifachen „Dein” wendet sich die Gemeinde stellvertretend für die ganze Welt Gott alleine zu. Zugleich kämpft sie, die sich so dem kommenden Gottesreich zugeeignet hat, gegen alles, was die Welt von Gott trennt und was die Gemeinde aufhalten will auf ihrem Wege des Volkes Gottes durch die Wüste.

Linie

LeerBetend kämpft sie gegen die Macht der Sorge um das Zuviel oder Zuwenig: „Gib uns heute Brot und morgen.” Betend kämpft sie wider die Macht der Schuld, die uns von Gott trennt und die Gemeinschaft der Brüder und Schwestern in Christus zersetzt. Gegen die zerstörenden Kräfte der Versuchung erbittet sie die Hilfe Gottes. Und wie in diesen Bitten der Weg vom Äußersten und Sichtbarsten zu den hintergründigen Dingen geht, so wendet sich die siebente Bitte schließlich gegen den unsichtbaren und unheimlichen Feind Gottes selbst. Kampf, Glaube und Gebet der Christenheit lebt aber nur davon, daß alles schon vollendet ist in dem, der Anfang und Ende in seiner Hand trägt: Denn Dein ist das Reich!

LeerSo ist dies Gebet aus der Mitte der Christusgemeinde auf Erden heraus gesprochen. Sie schaut in ihm nicht nur ihren eigenen Weg an, sondern sie geht den Weg betend. Und die Bitten sind so gestaltet, daß sie von jedem Beter in die eigene Mitte aufgenommen und mit Leib und Seele gebetet werden können. Jede Bitte ist umgeben von der Unaussprechlichkeit des Anliegens der Kirche Christi. Aus der Fülle dieser Unaussprechlichkeit kann immer Einzelnes dem gesammelten Beter einmal in den Vordergrund treten, so wie Luther von sich sagt, daß ihm oft über Einer Bitte so reiche Gedanken kämen, daß er darüber die andern sechs fahren lasse.

LeerUm das Unser-Vater im Gottesdienst recht mitbeten zu können, sollte man immer wieder in stiller Betrachtung ihm als dem Christusweg folgen. Betrachtung und Gebet werden dadurch zu einer einzigartigen Einübung im Christentum. Es zeigt sich dann auch die andere Seite echter Meditation, daß nämlich die Inhalte der Betrachtung in unsere eigene Wesensmitte eingehen. Oder anders ausgedrückt: Gehen wir betend den Christusweg, so beginnt sein wandelndes und erneuerndes Wirken an uns in allen Schichten unseres Wesens. Es zeigt sich dann wieder, wie sehr das „Ihr in Mir” mit dem „Ich in euch” zusammengehört. Bis ins Einzelne bewährt sich das, wenn wir uns das Gebet vergegenwärtigen als ein stufenweises Durchschreiten aller Regionen unseres leibseelischen Daseins bis zum untersten Grunde und wieder zurück zur Höhe.

LeerIn der Anrede wendet sich der Betende der himmlischen Höhe zu. Dann bietet er sein ganzes Wesen der Herrschaft Gottes dar. Zum ersten bittet er, daß seine Geisteskräfte - im Haupte haben sie ihren Sitz - unter das Licht der Offenbarung Gottes treten und von ihm Weisung empfangen möchten, der seinen heiligen Namen uns bekannt gemacht hat. Nun geht der Weg eine Stufe tiefer in das Wesen des Menschen hinein. In der zweiten Bitte erscheint das Wort „Reich”. Es ist der Inbegriff der Gestaltung und Ordnung der Wirklichkeit unter einem herrschenden Geist. So nimmt Gott von den geheimen Bildekräften in uns Besitz, die in der Region des Atems und des Zentrums der Blutzirkulation, da, wo Geistiges und Leibliches sich in besonderer Weise treffen und durchdringen, wirken. Unter dieser Region ist im menschlichen Körper der Bereich der vitalen Kräfte angeordnet. Sie dienen entweder dem Geiste oder wirken als chaotische und zerstörende Mächte. In der dritten Bitte öffnen wir die leib-seelische Gesamtheit unserer vitalen und Willenskräfte dem Willen Gottes und lassen sie dadurch wieder in die Schöpfungsordnung eingliedern.

Linie

LeerDamit aber der Mensch in aufrechter Haltung, in straffer Zucht aller Kräfte, mit zu Gott gewandter Seele stehen kann, bedarf er des tragenden Grundes und Bodens. In wunderbarer Weise wird in der vierten Bitte der gesamte Bereich der äußeren Notwendigkeiten wieder in seine dienende und helfende Funktion eingesetzt. Der Boden ist dazu da, daß unsere Füße darauf stehen, nicht, daß wir ihm verhaftet sind. Lebt Christus in uns, so ist uns diese Region aus einem Hemmnis in eine Förderung des geistlichen Lebens, aus einem alles verschlingenden Grabe in einen fruchtbaren Mutterschoß verwandelt. Nun aber kommt auch bei dieser Betrachtungsweise die Rückwendung nach oben. Die drei oberen Stufen werden wieder beschritten, um die Heiligung aller unserer Kräfte zu vollenden. Die durch unsere ungeordneten Willenskräfte angerichtete Schuld wird in die Vergebung Gottes befohlen. Wider die Versuchung, wider die im Herzen wohnenden bösen Gedanken wird die Hilfe Gottes erfleht. Und wieder angekommen auf der ersten Stufe bitten wir in der siebenten Sitte um Teilnahme an dem Christussieg über den Satan, der an Stelle der Klarheit Gottes seine dunkle Herrschaft im geistigen Zentrum des Menschen aufrichten will. Nun hebt der betende Mensch im Schluß-Lobpreis seine befreite Stirn zu dem Vater aus und gibt Gott allein die Ehre.

LeerErscheint so im Unser-Vater das Bild des Menschen, erlöst und erneuert durch Christus, so ergibt sich die unendlich weittragende Tatsache, daß gerade dieses allerchristlichste Gebet das Menschheitsgebet ist. Alle geistigen, sittlichen und religiösen Anliegen der Menschheit sind in ihm - nicht ausgesprochen, aber aufgehoben und aus dem Dunkel ewiger Unerfülltheit in das Licht der Erfüllung durch Christus gestellt.

LeerDie Kirche müßte dem Gebet des Herrn nur mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Häufig wird beklagt, wie es im gottesdienstlichen Gebrauch mißhandelt wird. Bei manchem Pfarrer hat man das Gefühl, daß er nach den verschlungenen Pfaden des großen Kirchengebets oder gar eines freien Gebets nun auf der ebenen und geraden Bahn der festen Formeln wie losgelassen auf das Amen zurast. Demgegenüber versuchen andere wohlmeinend der Kargheit der Sätze durch gefühlvolle Variation der Stimme aufzuhelfen. Beides ist nicht aus ästhetischen Gründen zu bedauern, sondern deswegen, weil in beiden Arten der Mensch sich als Herr des Gebetes aufspielt und so auch der mitbetenden Gemeinde die Möglichkeit nimmt, sich aufnehmen zu lassen von der wandelnden Kraft der Gebetsworte. Die rechte Art findet man also auch nicht durch äußere Technik wieder, sondern indem man sich das Gebet des Herrn erst einmal selbst wieder zur geistlichen Übung im tiefsten Sinne werden läßt.

LeerWenn wir uns von dem gewaltigen Gewölbe des Vater-Unser aufnehmen und von seinem Geist durchdringen lassen, dann werden wir ganz von selber jeder Bitte einen ruhigen Atem gönnen. Da werden wir im Mitbeten mit der ganzen Christenheit gern auf jede individuelle Tönung verzichten. Und wir werden unsern Leib mitbeten lassen, indem wir fest und aufrecht stehen, frei atmen und sprechen. Die Ordnung des Leibes aber hilft wiederum zur Ordnung des Geistes. Und wenn eine ganze Gemeinde sich in solchem Beten zusammenfindet, so schwinden die Schranken von Raum und Zeit; wir sind vereint mit der Jüngerschar, die sich betend bereitet, mit Christus seinen Weg zu gehen.

Das Gottesjahr 1938, S. 129-133
© Johannes Stauda-Verlag Kassel 1938

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-24
TOP

Impressum
Haftungsausschluss