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Geistliche Übung im Pietismus
von Immanuel Pfisterer

1.

LeerMan nennt Philipp Jakob Spener (1635-1705) den Vater des Pietismus. Von seelsorgerlicher Verantwortung getrieben, als Mann des volksmissionarischen Wirkens, hat er am 18. Juli 1669 in Frankfurt jene berühmte Predigt über Matth. 5, 20 gehalten, von der an man den Anfang des Pietismus in Deutschland rechnet. Bezeichnend ist, wie der Widerspruch dagegen sich kund tat. Spener verlange zu viel, „er lehre gut papistisch und schwäche allzusehr den evangelischen Trost”.(1) Eine Predigt über Sonntagsheiligung, die er einige Wochen später hielt, also über eine Frage der praktischen Lebensordnung, gab den Anstoß zu den collegia pietatis, zu den Versammlungen im kleineren Kreis, in denen bald Gebet und Schriftbetrachtung allein maßgebend wurden. Wir sehen in ihnen die Dreiheit Schrift, Gebet und Lebensordnung vereinigt.

2.

LeerBekannter als der stille und bedächtige Spener ist sein feuriger Schüler August Hermann Francke (1663-1727). (2) Wir sehen in ihm vor allein den Gründer der „Franckeschen Stiftungen” in Halle a. S. Sie sind die erste große Verkörperung pietistischen Geistes und Lebenswillens, in Ausmaß und Art ihres Werdens an die Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel erinnernd. Aber Franckes Wirken und Wirkung reicht viel weiter. „Seit Luther hat wohl kein Beter so weit und so tief gewirkt wie Francke.” (Vorwerk) Aus der persönlichen Entwicklung Franckes, aus der Geschichte seiner „Bekehrung” (Oktober 1687) läßt sich das Gebet nicht wegdenken, und eben dieses Erlebnis hat wieder die Art seines Betens bestimmt. Es bewegt sich in drei Linien.

LeerDa ist im Blick auf die Menschen, die er zu speisen, zu kleiden, zu unterrichten hatte, die Bitte um das tägliche Brot. Davon erzählt Francke in seinem Bericht „Fußstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes” merkwürdige Dinge. Da ist das Heiligungs- und Übergabegebet, dem das Erlebnis seiner Bekehrung das Gepräge gegeben hat, und das er auch im Kreis seiner Mitarbeiter geübt hat. Und da ist das Reichsgottesgebet, das alle Welt umfaßt - ist doch Francke zugleich der erste Förderer der Heidenmission in der evangelischen Kirche Deutschlands gewesen. Neben dem Gebet steht bei Francke die Schriftbetrachtung. Als junger Leipziger Privatdozent erneuert er das collegium philobiblicum, und später nimmt er in Leipzig vor allem die biblischen Vorlesungen wieder auf. Sein Lehrauftrag an der Universität Halle weist ihm biblische Sprachwissenschaft und Auslegung zu. In Erfurt bemüht er sich mit Erfolg um die Verbreitung des Neuen Testaments, und in Halle entsteht die Cansteinsche Bibelanstalt unter seinen Augen und mit seiner Hilfe, wir finden also bei Francke die enge Verbindung von Gebet und Schriftbetrachtung.

LeerKein Wunder, daß das nun in die Ordnung des alltäglichen Lebens eingreift. Um der geistlichen Unwissenheit und Verwahrlosung seiner Gemeinde zu steuern, erneuert er die täglichen zwei Katechisationen in der Kirche und verbindet sie mit Morgen- und Abendbetstunden. Auch richtet er vierteljährliche Buß- und Bettage ein. Den Studenten seines orientalischen theologischen Kollegs schreibt er die Teilnahme am gemeinsamen Morgen- und Abendgebet vor und rät ihnen zum täglichen einsamen Gebet. Auch die Freitisch-Studenten sollten sich in bestimmten Betstunden einfinden. Die Vorlesungen beginnt und schließt er mit Gebet. Er stellt den Studenten Luthers Beispiel des täglichen mehrstündigen Gebets vor Augen. Das Leben in den Anstalten läßt er mit täglichen Andachten durchformen. Morgens und Abends wird Gebet, Schriftverlesung und Betrachtung wichtiger Punkte geübt. Alle Unterrichtsstunden sind mit Gebet eingefaßt; in den älteren Jahrgängen sollen die Schüler selber das Gebet, womöglich in freier Weise, sprechen.

LeerDas ganze Leben wird in eine geistliche Atmosphäre getaucht. In solcher geistigen Luft bildeten sich gelegentlich kleinere Gebetskreise. Zinzendorfs „Senfkornorden” war ein solcher. Der Spott der Mitschüler blieb ihnen freilich nicht erspart, und die Teilnehmer selber mußten sich zur Besonnenheit und Nüchternheit und zur Pflege des einsamen Gebets neben dem gemeinsamen mahnen lassen. Nehmen wir noch hinzu, daß trotz Franckes Richtung auf das praktische Leben - er ist der Schöpfer des modernen Realunterrichtes - die Naturseite des kindlichen und jugendlichen Lebens nicht zu ihrem Rechte kam, und daß die Schüler möglichst wenig ohne Aufsicht gelassen wurden, so will uns vorkommen, es sei in Franckes Arbeit in Gemeinde, Anstalt und Hochschule an geistlicher Übung und Zucht des Guten zu viel getan worden.

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LeerEin solcher Beter und Gebetserzieher konnte aus seiner Erfahrung Anleitung zum Gebet, und Hand in Hand damit zum Bibellesen geben. Er wußte, in welcher Wechselwirkung Schriftbetrachtung und Gebet stehen. In den für den eigenen Gebrauch aufgezeichneten „Schriftgemäßen Lebensregeln” hat er sich klar und knapp über diese Dinge ausgesprochen. Aus der „Schriftgemäßen Anweisung, recht und gottwohlgefällig zu beten” und dem „Einfältigen Unterricht, wie man die Heilige Schrift zu seiner wahren Erbauung lesen soll” stammen die nachfolgenden Worte.

Leer„Basilius sagt: welche Brunnen graben, finden so viel besseres Wasser, soviel sie tiefer graben. Also ist auch der Brunnen der Heiligen Schrift. Wer ihre himmlischen Quellen mittelst des lieben Gebets aufgraben und untersuchen will, wird gewiß den Gnadenstrom des Heiligen Geistes finden und fühlen.” „Dem Gebet muß die Betrachtung die Hand bieten, daß man ein Jedes fein in seinem Herzen erwäge. Wo man über ein Kapitel rauschet, danach die Bibel zuschlägt und bald das Gelesene wieder vergisset, so ist kein Wunder, daß man nicht frömmer und andächtiger wird. Wenn es mit der Betrachtung nicht fort will, mußt du beten, und wenn das Gebet nicht fließen will, mußt du die Worte ein wenig betrachten. Also muß Gebet und Betrachtung einander die Hand bieten.”

Leer„Gott, der getreu ist, wird es einem andächtigen Bibelleser nicht an Kreuz und Anfechtung fehlen lassen, welches ein prächtig Mittel ist, die Heilige Schrift zu verstehen und zu empfinden.” „Wenn einer keine rechte Lust zum Gebet und Freude an Gott in sich findet, so daß die Worte nicht fließen wollen, so hat er sich wohl zu prüfen, ob er nicht zu solcher Zerstreutheit und Laulichkeit selbst Ursache gegeben durch mutwillige Versäumnis und Aufschiebung des Gebets, durch unnützes Geschwätz, allzu große Geschäftigkeit, Sorge der Nahrung usw. Und wenn dem so ist, so hat er mit Demut den Fehl zu erkennen und desto mehr in Ringen und Kämpfen vor dem Herrn anzuhalten, bis die Übung des Gebets wieder in Lauf komme und sodann desto mehr Fleiß zutue, daß er sich vor solchen Verhinderungen des Gebets hüte.”

Leer„Je weniger einer überhaupt betet, desto weniger Trieb hat er zu beten, und je mehr er betet, desto mehr Trieb hat er.” „Es lehrt's die Erfahrung, daß kein Gebet schwerer ist mit beständiger Aufmerksamkeit zu beten, als was man auswendig gelernt hat. Darum gebe ich dir diesen Rat: geh zuweilen in dein Kämmerlein und nimm vor dich die Formeln, die du auswendig gelernt, und sprich sie, bleib aber bei jedem Wort ein wenig still stehen und erwäge es bei dir selbst, was es eigentlich heiße und was du für Nachdruck und Kraft darin findest; wollen dir die Worte fließen, so sprich auch aus, was du bei jedem Wort für Betrachtungen hast; geh dann hurtig fort zum andern Wort und mach es gleich also bis zum Schluß. Wenn du dann bei einem Wort einen sonderlichen Trost und Stärkung gefunden: so wird dir solch Gebet darnach allezeit süßer sein und wirst es viel aufmerksamer sprechen können.”

Leer„Im übrigen dient es allzeit zur Erweckung und Erhaltung der wahren Andacht, daß man vorher, ehe man betet, seine Sinne fein zusammenfasse und wohl bedenke, vor wen man treten wolle. .. Es ist auch eine nicht geringe Ursache, daß man so wenig rechtschaffener und herzlicher Andacht im Gebet zu genießen hat: daß man allzu unbedachtsam dazu eilet und eh man recht warm darinnen wird, wieder davon läuft, wer im Gebet des lieben Gottes recht froh werden will, der muß sich's nicht dauern lassen, einige Stündlein mit dem lieben Gott im Gebet zuzubringen.”

3.

LeerNehmen wir bei Francke wahr, wie sich seine Grundhaltung in den gegebenen Verhältnissen seiner Gemeinde und seines Lehrauftrags und in den neugeschaffenen seiner Anstalten auswirkt, so gibt uns die von Zinzendorf erneuerte Brüderkirche das Beispiel eines von pietistischen Einflüssen mitgeformten Gemeindegebildes. Man darf allerdings nicht übersehen, daß bei allem Neuen, was durch Zinzendorfs Hallesche Erziehung und durch seine stark ausgeprägte persönliche Eigenart hinzu kam, doch die Überlieferung der mährischen Ansiedler einen großen Anteil an der Besonderheit der Brüdergemeine hat. Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700-1760) (3) weilte von 1710-1716 als Zögling in den Franckeschen Stiftungen.

LeerNach dem von 1722 an Herrnhut durch die Einwanderung der Mährischen Ansiedler entstanden war, setzte die eigentliche Gemeindebildung mit den Geschehnissen des Jahres 1727 ein (12. Mai 1727 die Verfassung; 13. August 1727 zusammenhängend mit der Abendmahlsfeier dieses Tages in der Berthelsdorfer Kirche die „Gnadenerfahrung”). Von Bedeutung ist zuerst die Durchgliederung der Gemeine. In den Sommerwochen 1727 hatte Zinzendorf versucht, „mit einem jeden die Sache des Herrn nach seinem Zustand zu behandeln.” Davon nahmen die sogenannten „Banden” ihren Anfang. Unter „Banden” verstand man „zwei, drei oder mehr auf Jesu Namen versammelte Seelen, die sich herzlich und kindlich über ihren Herzenszustand miteinander besprachen, einander ermahnten, aufmunterten, trösteten und miteinander beteten.”

LeerDadurch war die ganze Gemeine in kleinste Gruppen aufgeteilt, und jedes Glied irgendwie erfaßt. „So blieb keine Seele übrig, die nicht Gelegenheit gefunden hätte, mit der Gabe und Gnade, die ihr Gott verliehen hatte, andern nützlich zu werden.” In diesen kleinsten Kreisen wurde gegenseitig Seelsorge geübt; die Verantwortung und Hilfe des „allgemeinen Priestertums” konnte praktisch wirksam werden. Geistliche Gefallsucht oder aber glaubensschwache Verzagtheit wurden aufgedeckt und bekämpft. Gemeinsame Fürbitte beschloß die wöchentlichen Zusammenkünfte der einzelnen „Banden”. Auch die führenden Männer wie Christian David und Zinzendorf selbst entzogen sich nicht der Zucht und Hilfe dieser „Banden”.

LeerDem Auseinanderfallen der ganzen Gemeine in Grüppchen wehrte Zinzendorf dadurch, daß er an jedem Sonntag die „Bandenhalter”, d. h. die Leiter der einzelnen Gruppen, mit den Ältesten um sich sammelte und mit ihnen den Zustand der Gemeine besprach. Neben die „Banden” traten die „Chöre”, die die einzelnen Altersstufen in sich faßten. In den „Chorviertelstunden” hielt Zinzendorf jedem Chor, den Knaben, den Mädchen, den ledigen Brüdern, den ledigen Schwestern, den Ehemännern und Ehefrauen, den Witwern und Witwen das Vorbild Christi für ihre besondere Lebenslage vor Augen, so den ledigen Schwestern die Mutter Jesu in ihrer jungfräulichen Gottergebenheit, den Eheleuten das Verhältnis Christi zur Gemeinde (nach Epheser 5, 23-33).

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LeerFür die Gemeine als Ganzes kam in erster Linie die regelmäßige Teilnahme am Sonntagsgottesdienst in der Berthelsdorfer Kirche in Betracht; dort feierte sie auch alle 4 Wochen das Mahl des Herrn. Die Vorbereitung geschah in den „Banden”, wie ernst sie genommen wurde, zeigt die Tatsache, daß einmal Zinzendorf sich selbst auf Grund einer solchen Aussprache von, Abendmahl ausschloß und der Gemeine brieflich die Gründe mitteilte.

LeerZum Morgen- und Abendsegen, bestehend aus Gesang, Gebet und kurzer Schriftbetrachtung versammelte sich die Gemeine täglich. Besondere Veranstaltungen zum geistlichen Aufbau waren einmal die Singstunden, die als Gottesdienste zu betrachten sind. Zinzendorf sagt von ihnen: „Dergleichen wie unsere Singstunden ist noch nie gewesen, und wenn aus etwas sollte geschlossen werden, daß der Herr mit uns ist, so wäre es unsere Methode zu singen. Wer nicht gern in die Singstunde geht, verrät bei mir. daß er in der Sache nicht zu Hause ist.”

LeerFerner das Stundengebet, in dem der Gedanke der ewigen Anbetung auf neue Weise Gestalt gewann. 24 Brüder und 24 Schwestern verbanden sich, von einer Mitternacht zur andern im Gebet zu verharren, indem sie die 24 Stunden des Tages und der Nacht durch das Los unter sich verteilten. Denen, die aus Armut des Geistes oder wegen ihrer Berufsgeschäfte nicht die ganze Stunde beten konnten, war erlaubt, währenddessen mit geistlichen Liedern Gott zu preisen. Sie alle versammelten sich wöchentlich, um Mitteilungen über besondere Vorkommnisse freudvoller und leidvoller Art in der Nähe und in der Ferne zu empfangen, damit sie in Lobpreis Gottes oder in herzlicher Fürbitte dessen gedenken könnten.

LeerAuch die Nachtwachen, die zum Schutze des Dorfes gehalten wurden, und zu denen sich je zwei Brüder zusammentaten, wurden zu Gebet und Gotteslob verwendet. Schließlich gehören hierher auch die Liebesmahle, die bis heute eine der eigentümlichen Einrichtungen der Brüdergemeine geblieben sind. Geistlicher Übung in Gebet und Gesang, in gemeinsamer Feier und in der Einsamkeit, in Aussprache und gegenseitiger seelsorgerlicher Hilfe war in Zinzendorfs erneuerter Brüderkirche weitester Raum, gewährt.

4.

LeerVon Spener, Francke und Zinzendorf schauen wir zu dem in Schwaben bodenständig gewordenen Pietismus. Unter den „württembergischen Vätern” sei nur Joh. Albrecht Bengel (1687-1752) (4) und Friedrich Christoph Ötinger (1702-1782) (5)genannt. Ob und wie weit man bei Bengel von geistlicher Übung reden kann, mag man an manchen seiner Worte, wie sie in den „Evangelischen Jahresbriefen” 1936/1937 dargeboten sind, ersehen. Die Zukehr zu Gebet und Schriftbetrachtung und das Wissen um die Wachstumsgesetze des geistlichen Lebens sind die wesentlichen Merkmale. Übersteigertes, forciertes Wesen lehnt er ab; das Hineintauchen in geistliche Atmosphäre weiß er in seinem Wert zu schätzen.

LeerEr warnt vor allzuvieler Beschäftigung mit der eigenen Person und ihren Zuständen und lehrt den Blick von sich weg auf Christus wenden. Man denke an den herrlichen Brief, den Bengel dem Vikar Wagner in Schlatt geschrieben hat zu dessen Trost und Aufmunterung. (6) Oder man lese in einem andern seelsorgerlichen Brief (Wächter S. 406): „Gottes Wort muß alles heilen. Und das müssen wir immer in gutem Vorrat zu Herzen nehmen und unseres Heilands Licht, Kraft, Wahrheit und Klarheit sich in uns spiegeln lassen, so wird sich das, was düster, finster, unartig, höllenschweflich und tödlich ist, verkriechen oder verlieren müssen.”

LeerVon Ötinger möchte ich den Titel einer Schrift aus dem Jahr 1733 nennen „Abriß der evangelischen Ordnung zur Wiedergeburt”. [9] Vier Stufen der Erneuerung, symbolisiert in den Bildern des Ochsen, des Menschen, des Löwen und des Adlers (Hes. 1, 10; 10, 14; Offb. 4, 7) werden aufgezeigt. Die Schrift, in der nach einer Andeutung Erich Schicks geradezu ein Exerzitienbuch zu sehen wäre, habe ich leider nicht selber in die Hände bekommen, wer aber den Hunger Ötingers nach Realität schon in seinen Kindheits- und Jugendjahren kennt (dem siebenjährigen Knaben wurde er über dem Beten des Gerhardtschen Liedes „Schwing dich auf zu deinem Gott” in so eigentümlicher Weise gestillt), kann sich wohl vorstellen, wie sehr Ötinger zeitlebens daran liegen mußte, durch die Worte hindurch in die Sache einzudringen und die Sache in sich eindringen zu lassen.

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LeerDer altschwäbische Pietismus in seinen verschiedenen Gestalten (altpietistische, Hahnische, Pregizersche Gemeinschaften) sieht die Teilnahme an Predigtgottesdienst und Sakramentsfeier der Kirche als selbstverständlich an. In den Pregizerschen Gemeinschaften erfreut sich die Taufe, in den Hahnischen das Mahl des Herrn hoher Wertschätzung. Für die geistliche Förderung der Gemeinschaftsglieder hat schon das Einatmen der in den Versammlungen herrschenden eigentümlichen Geistesluft Bedeutung. Ein wichtiges Mittel zur geistlichen Pflege ist das Lesen, das sehr fleißig geübt wird. Voran steht die Bibel und ihre Auslegung (Bengel, Steinhofer, Roos, Rieger u. a.). In den Hahnischen Kreisen spielen die Schriften und Lieder des Stifters Michael Hahn eine große Rolle. Die altpietistischen Gemeinschaften besitzen in Christoph Königs Liederschatz ein treffliches Liederbuch. Die Pregizerianer, die wie die neupietistischen Kreise das häusliche Singen pflegen, halten Hillers Lieder wert. In den Stunden wird frei gebetet. Besondere Gebetsabende gibt es in den altpietistischen Kreisen; dort wird Samstag abends auch des Pfarrers fürbittend gedacht.

LeerEine eigentliche Gemeinschaftsordnung mit ziemlich straffer Organisation haben nur die Hahnischen Gemeinschaften. Hier wird auch strenge Zucht geübt und Luthers Anliegen der Kirchenzucht aufgenommen. Wo nötig, werden Ausschlüsse für immer oder auf bestimmte Zeit vollzogen. Gefallene Brüder werden nach einer Bewährungsfrist wieder aufgenommen, aber nicht mehr zum Sprechen zugelassen. Die Brüder, die in den Versammlungen das Recht zu sprechen haben, werden mit großer Vorsicht ausgewählt; sie müssen ein bestimmtes Mindestalter erreicht haben, und sollen „gewachsene Christen” sein. Gegen Menschen, die sich plötzlich gewandelt haben, ist man bedenklich, weil ihnen sauber aneinander gereihte Jahresringe des geistlichen Lebens fehlen - so sehr ist ihnen Wissen und Wertschätzung des Wachstümlichen im inwendigen Leben in Fleisch und Blut übergegangen.

LeerDie jüngeren Mitglieder sind gehalten, in allen wichtigen Lebensfragen und Entscheidungen den Rat erfahrener Brüder einzuholen. Diese betreuen sie seelsorgerlich und führen sie z. T. sehr gründlich in das Schrifttum der Väter ein. Schon zu Mich. Hahns Zeiten nahmen die regelmäßigen Konferenzen ihren Anfang. Sie haben darüber zu wachen, daß die Ordnungen eingehalten werden. Sie sorgen dafür, daß das Gemeinschaftsleben nicht in allzu engen Grenzen eingeschlossen verkümmert. Auch regeln sie die Hilfeleistung für bedürftige Gemeinschaftsglieder. In dem allen tut sich „geistliche Übung” kund, auch wenn dieser Ausdruck nicht gebraucht wird, und wenn man recht gut weiß, daß „es nicht an jemands Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen liegt.”

5.

LeerIm Neupietismus, der sich viel mehr an Menschen des modernen Alltagslebens wendet als es die älteren Gemeinschaften tun, bricht sich das Bedürfnis nach geistlicher Übung mit ursprünglicher Kraft Bahn. Das möge an dem Beispiel des „Jugendbundes für Entschiedenes Christentum” (8) deutlich werden. Seine tragende, verantwortliche Mitte sind die „Tätigen Mitglieder”, die sich durch ein Gelöbnis binden. Sie verpflichten sich Christus gegenüber im Vertrauen auf Seine Kräfte zur Treue im Beruf, zu täglichem Gebet und Schriftlesung, zu regelmäßiger Teilnahme an Gottesdienst und Versammlung und zu tätiger Mitarbeit in der Kirchengemeinde oder kirchlichen Gemeinschaft, der sie angehören (der Jugendbund E. C. ist interdenominationell). Mancherorts wird das Gelöbnis in der monatlichen „Weihestunde” wiederholt.

LeerDie Weihestunde ist eine Gebetsversammlung. Sie soll die Mitglieder zu der Erkenntnis erziehen, daß die Hingabe an den Herrn Jesus nicht ein einmal abgeschlossener Akt ist, sondern sich täglich zu vertiefen und auf alle Beziehungen des Lebens zu erstrecken hat. Um den Kreis der „Tätigen Mitglieder” legen sich die „Freundschaftlichen Mitglieder”. Von diesen wird kein Gelübde erwartet, sie sollen sich bewähren, bevor sie unter die „Tätigen Mitglieder” aufgenommen werden können. Der äußerste Ring, für den keinerlei Verpflichtung bestand, war der sogenannte „Freundeskreis”. Die seelsorgerliche Verantwortung und Betreuung untereinander und gegenüber den „Freundschaftlichen Mitgliedern” wird den „Tätigen Mitgliedern” sehr ernst aufs Herz gelegt und ist nach dem Urteil eines langjährigen Mitarbeiters eine der besonders starken Seiten des Jugendbundes für Entschiedenes Christentum.

Anmerkungen:

 1:  Schick, Geistliche Vorgeschichte der Basler Mission, S. 6.
 2:  Vorwerk, Gebet und Gebetserziehung Band I. (Bahn, Schwerin 1913). - Heinr.Merz, August Hermann Francke, Leben und Auswahl seiner Schriften, in Evangelische Volksbibliothek, Band III (Stuttgart 1864).
 3:  Uttendörfer und Schmidt, Die Brüder (Gnadau 1914). - Herm. Römer, Nicolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (Gnadau 1900).
 4:  Oscar Wächter, Johann Albrecht Bengel (Stuttgart 1864).
 5:  Ehmann, Friedrich Christoph Ötingers Leben und Briefe (Stuttgart 1859). Auch hat mich ein Brief Pfarrer Erich Schicks in Basel, der mir die Richtigkeit meiner Ansatzpunkte bestätigt, noch besonders auf Ötinger hingewiesen.
 6:  Wächter, Joh. Albrecht Bengel, S. 407 f.
 7:  Die Einzelheiten verdanke ich brieflicher Auskunft von Stadtpfarrer Römer, Stuttgart.
 8:  z. T. aufgrund brieflicher Auskunft von Pfarrer v. Sauberzweig in Salzwedel.
[9:  Faksimile]

Das Gottesjahr 1938, S. 35-43
© Johannes Stauda-Verlag Kassel 1938

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-24
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