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Geistliche Übung
von Wilhelm Stählin

LeerEs entspringt weder einem Bedürfnis nach religionsgeschichtlicher Forschung noch nach Klärung eines theologischen Problems, wenn wir uns mit „geistlicher Übung” beschäftigen. Dazu treibt und verpflichtet uns vielmehr eine stark empfundene Not. Immer wieder erfahren wir mit Beschämung und mit Sorge, daß wir Menschen, die mit ihren seelischen Bedrängnissen zu uns kommen, mit den Mitteln eines allgemeinen Zuspruchs nicht helfen können. Wir spüren, es müßte bestimmte Ratschläge, bestimmte Übungen geben. mit denen wir solchen Menschen über einen toten Punkt ihres geistlichen Lebens hinweghelfen könnten; wir glauben zu sehen, daß frühere Geschlechter aus einem ererbten Wissen um die inneren Gesetze des geistlichen Lebens solche Wege geistlicher Führung und geistlicher Übung gekannt haben, auf denen es uns an Kenntnis und Erfahrung gebricht. Was wir an anderen beobachten, nehmen wir im gleichen Maße an uns selber wahr. Unser eigenes inneres Leben gleicht, wie oft!, einem Kahne, der auf eine Sandbank geraten oder im Gezweig des Ufers hängen geblieben ist; sehnsüchtig aber hilflos schauen wir auf die Strömung, die uns nicht ergreift; was können wir nur tun, daß das Schifflein wieder in den rettenden Strom gerät?

LeerVon Liebe und Sorge getrieben haben wir angefangen zu handeln, auch wo wir noch keine bewährten Methoden, keine zuverlässige Weisung fanden. Wir haben gewagt, erste Schritte auf einem Wege zu gehen, den jedenfalls unsere Kirche in den letzten Jahrhunderten nicht mehr erprobt hatte. Stammelnd beschreiben wir dies und jenes, was wir dabei erfahren haben, und deuten wenigstens die Richtung des Weges an, auf dem wir uns vorwärts tasten.

LeerErst allmählich erkannten wir, daß hinter jenen Verlegenheiten eine menschheitliche Not, ein zentrales Problem der heutigen Menschenführung und Menschenbildung liegt. Es geht um den Ort des menschlichen Bewußtseins im menschlichen Sein. Hier gibt es zwei verschiedene Betrachtungen: entweder der Mensch als solcher ist eingebettet in große Lebenszusammenhänge; nach allen Seiten steht er in Verbindung mit Räumen und Bereichen, die größer und weiter sind als er selbst, und nur zu einem kleinen Teil vermögen sich diese ihn umgebenden Räume in seinem bewußten Denken und Erkennen zu spiegeln: das Bewußtsein ist nur ein kleiner Spiegel eines größeren Seins.

LeerOder aber das Bewußtsein wird als Mittelpunkt und als Maßstab der gesamten Wirklichkeit gewertet, so daß alles, was nicht im Bewußtsein existiert, im Grunde überhaupt nicht da ist; das bewußte Denken wird zur eigentlichen Form des menschlichen Seins: cogito ergo sum. Die abendländische Menschheit hatte sich im Laufe der letzten Jahrhunderte mit ungehemmter Begeisterung dieser letzteren Betrachtungs verschrieben, und sie hatte dem entsprechend den Versuch gemacht, auch in Erziehung, Seelsorge und Menschenführung jeder Art sich vorwiegend oder ausschließlich an dies bewußte Denken und Wollen des Menschen zu wenden. Die beiden großen abendländischen Ausprägungen des Christentums haben beide in ihrer Weise Anteil an dieser Entwicklung. So ferne sich protestantische Orthodoxie und Jesuitismus zu stehen scheinen, so sind sie doch beide in dem Aberglauben an die Alleinherrschaft des menschlichen Bewußtseins innig verwandt.

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LeerWir erleben heute in den mannigfaltigsten Formen den Zusammenbruch dieser Bewußtseinskultur. Er drückt sich im persönlichen Bereich darin aus, daß der Mensch in seinem bewußten Denken und Sein nicht mehr das zu verarbeiten vermag, was in seinen tieferen Seinsschichten sei es an Ordnung, sei es an Unordnung, schlummert. Der Mensch, der sich selbst mit seinem Bewußtsein verwechselt, verliert die Beziehung zu den vitalen Rhythmen und Kräften, ohne die auch die höchsten und feinsten seelischen und geistigen Funktionen verkümmern oder entarten müssen. Die schöpferischen Kräfte versiegen. Der Mensch ist in sich zerspalten: der lebendige Austausch zwischen einer Oberflächenschicht bewußter Gedanken und Handlungen und einer dem Menschen selbst verborgenen unterirdischen Schicht, wo heilsame und zerstörerische Mächte schlummern, ist abgeschnitten, und in den verschiedensten Formen der Krankheit macht die zerstörte Ganzheit ihren Anspruch geltend.

LeerAber es ist keineswegs nur eine individuelle Krankheit, die auf einzelne Menschen beschränkt wäre, und die man dadurch isolieren könnte, daß man gelehrte Namen wie Neurose oder dergleichen dafür gebraucht. Es handelt sich vielmehr um ein menschheitliches Problem, das heute als die große Weltennot an den verschiedensten Orten und in den verschiedensten Formen aufbricht. Mit der Ganzheit des Menschen sind durch jenen Bewußtseinswahn zugleich alle Beziehungen des Menschen zum Kosmos gestört und unterbrochen. Und so wie in dem Einzelleben die von dem bewußten Denken nicht erreichten Untergründe sich in den seltsamsten Formen der Lähmung, nervösen Leiden oder Ausbrüchen unheimlichster Art rächen, so tauchen in dem Verhältnis des Menschen zum Weltganzen jene Riesen, Kobolde, Gnomen und Trolle, in denen die Phantasie früherer Geschlechter die unheimliche andere Seite der Welt bildhaft erkannte und anerkannte, in seltsamer Vermummung wieder auf und spotten des kleinen Menschleins, das sich anmaßt, von seinem begrenzten Bewußtsein aus das Weltganze zu erforschen und zu beherrschen.

LeerDie „gigantischen” Leistungen des menschlichen Willens rufen die Dämonen auf den Plan, und ebenso die unheimliche Statistik der Verkehrsunfälle wie die Riesenhungersnöte, die der Bolschewismus heraufbeschworen hat, sind grauenhafte Symbole dieses Massenwahnsinns. Der tiefste Sinn dieser ganzen Entwicklung ist ausgedrückt in jener abgründigen Formel, die uns aus dem Altertum überliefert ist: „Propter vitam vitae perdere causas”, das heißt: um angeblich das Leben zu erhalten und zu steigern, werden die Quellen des Lebens verschüttet, die Ur-sachen zerstört.

LeerWo dem heutigen Menschen diese seine bedrohliche Lage zum Bewußtsein kommt, da besinnt er sich, wie er aus diesem seinem Gefängnis entrinnen könnte, und er sucht solchen Fluchtweg bald nach unten, bald nach oben. Entweder er versucht, einen neuen Zugang zu den vegetativen und animalischen Schichten zu gewinnen; er möchte zurückkehren in die großen Rhythmen des naturhaften Lebens und verkündigt als seine befreiende Entdeckung, daß der Mensch nicht vom Hirn aus, sondern von seinem Blut aus leben müsse. Oder aber er streckt sich aus nach Erkenntnis „höherer” Welten, er interessiert sich wieder für Engel und Dämonen und holt uralte Symbole metaphysischer Mächte aus dem religionskundlichen Museum hervor, um ernsthaft nach ihrem Sinn zu fragen.

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LeerOder er begreift, daß er beides zugleich tun muß, weil hier „unten” und „oben” sich geheimnisvoll berühren. Nur widerfährt dem Menschen, der einmal der Alleinherrschaft des Bewußtseins verfallen ist, das Gleiche wie dem König Midas, daß alles, was er berührte, in Gold verwandelt ward. Während er sich nach Erweiterung seines Lebensraumes sehnt, nimmt er doch alles nur in sein Bewußtsein auf. Er gewinnt keine echte Verbindung mit seiner eigenen Tiefe. Sondern nur eine Theorie des Unbewußten. Er meint, die Lebenskraft selbst zu stärken. Wenn er biologisches Wissen besitzt und verbreitet; er weiß wieder von jenen Kräften der Vermittlung, die hilfreich und verwirrend auf uns wirken: aber er begegnet keinem Engel und weiß sich der Teufel nicht zu erwehren. Als ob mich der Besitz eines Telefonbuches mit unzweifelhaft richtigen Nummernangaben darüber trösten könnte, wenn die Verbindung nicht zustandekommt; oder als ob mich das Kursbuch etwas nützen könnte, wenn der Schienenstrang selbst unterbrochen ist!

LeerHat unsere Kirche wirkliche Vollmacht, dieser Not zu begegnen? Wir reden von der evangelischen Kirche, so wie sie sich im deutschen Volksraum darstellt. Wenn wir hier gänzlich darauf verzichten, die katholische Kirche in den Kreis unserer Betrachtung zu ziehen, so hat dies Schweigen gewiß nicht den Sinn, daß wir neiderfüllt meinten, dort sei alles in Ordnung; wir wissen zu genau, wie ernsthaft unsere katholischen Freunde in dem Umkreis ihrer eigenen Kirche gegen ähnliche Gefahren kämpfen. Aber haben wir, wir Protestanten, uns nicht weithin unter sehr ehrwürdigen theologischen Formeln damit begnügt, das Bewußtsein des Menschen anzureden und seinen bewußten Willen aufzurufen? Haben wir uns nicht fast gänzlich darauf beschränkt, die künftigen Pfarrer durch einseitige theologische Schulung, das heißt durch Klärung des religiösen Denkens für ihr priesterliches Amt auszurüsten?

LeerWie fern liegt unserer protestantischen Tradition das, was uns in diesem Band ein Engländer über die Ausbildung der Pfarrer in seiner Kirche erzählt; und es ist doch nichts anderes, als was die Väter unserer Kirche selbst einmal deutlich gesehen und ausgesprochen haben: „Es ist nicht genug, wenn die Jugend, welche einst zu den leitenden Ämtern der Kirche gelangen soll, wissenschaftlich gebildet wird, sondern sie soll auch durch geistliche Zucht und fromme Übungen zur Liebe der kultischen Formen und zu einem frommen Leben gewöhnt werden; denn diejenigen, die nicht durch solche hingebende Bemühung gewöhnt sind, sind zumeist weltförmiger, als es der Kirche frommt.” (1) Wenn vor Jahren ein junger Theologe in die erschütternde Klage ausbrach: „Wir können das Wort Gottes in der Heiligen Schrift richtig auslegen. Aber wir können nicht mehr wirklich lesen und hören, Gott redet nicht zu uns; wir wissen genau, was Beten ist, aber wir vermögen nicht zu beten; wir sind überzeugt, die richtige Abendmahlslehre zu haben, aber wir haben weder Verbindung mit Christus, noch Verbindung untereinander!” - findet solche Klage nicht ein tausendfältiges Echo bei Theologen und Nicht-Theologen in unserer Kirche? Und in dem gleichen Augenblick spüren wir doch , daß alles, wirklich alles darauf ankäme, daß wir solche echte Verbindung wiedergewinnen, daß das zerbrochene Menschenwesen wirklich geheilt würde zur Ganzheit, daß die Wirklichkeit Gottes unser Lebensganzes heilend und heiligend durchdringe.

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LeerAn diesem Punkt setzt unsere Frage nach geistlicher Übung ein. „Geistliche Übung” ist der Inbegriff aller jener Bemühungen, in denen der Mensch dafür bereitet wird, der Wirklichkeit Gottes zu begegnen, sein Wort wirklich zu vernehmen und von der Kraft des göttlichen Geistes in Wahrheit berührt und durchdrungen zu werden. Wir wissen wohl: Gott allein verfügt über diese Begegnung. Keine menschliche Technik kann die Gottheit beschwören und ihre gnadenreiche Gegenwart erzwingen, wenn nicht Gott selber zu uns kommt und uns aus der Fremde, in der wir sind, heim-sucht. Es ist unmöglich, daß wir jemals wieder hinter diese zentrale Erkenntnis der Reformation zurückgehen und sie verleugnen. Es hat seinen tiefen und guten Sinn, daß Luther den Begriff der geistlichen Übung mit Vorliebe im passiven Sinn gebraucht hat: wir werden von Gott geübt, und das vornehmste Mittel solcher Übung sind die Leiden, die Er uns auferlegt. In der Schule des Leidens macht uns Gott selber empfänglich für das, was Er an uns tun will. Aber darüber darf die andere Frage nicht übersehen werden, was wir selbst tun sollen. Um zu jener wahrhaft fruchtbaren Passivität zu gelangen, in der Gott sein Werk in uns und an uns tun kann.

LeerGerade dies ist ja die Not, unter der wir alle leiden, daß wir selber so viel denken, sagen, unternehmen und vollbringen, daß Gott nicht an uns wirken kann. Aber hätte es einen Sinn, daß die Bibel vom ersten bis zum letzten Blatt uns zumutet zu hören, wen wir nicht uns (äußerlich oder innerlich verstanden!) an einen Ort begeben könnten, wo uns die Gnade solchen Hörens widerfährt? Ist es wirklich denkbar, daß Jesus in dem Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld bloß vier Menschentypen hätte beschreiben wollen, zu deren einer jeder einzelne Mensch eben durch Anlage und Schicksal gehört? Ist nicht dies seine Meinung, daß der Mensch dem guten Ackerland gleichen soll, das bereitet ist zu empfangen, aufzunehmen, zu bewahren und Frucht zu tragen? Darum ist geistliche Übung „Leiden und Tun” zugleich, wie es uns in einem entscheidend wichtigen Aufsatz dieses Jahrbuchs beschrieben wird. Es denkt niemand daran, uns eine geistliche Betriebsamkeit zu empfehlen, die auch den innersten Lebensbereich unter den Bann unserer übersteigerten Aktivität beugen könnte. Es denkt niemand daran, eine neue Werkgerechtigkeit aufzurichten, in der der Mensch hoffen könnte, durch fromme Werke seine Schaden zu heilen. Alle geistliche Übung ist Hingabe an Gott, nichts anderes; eine Hilfe zu dem Einen und Einzigen, wodurch wir Anteil gewinnen können an den heilsamen Kräften der göttlichen Welt; eben das meint die Sprache unserer Kirche, wenn sie von dem Hören des göttlichen Wortes, von dem Glauben an die Gnade Gottes redet.

LeerSolche geistliche Übung hat notwendigerweise zwei Seiten, gleichsam zwei Bewegungen, in denen sie sich entfaltet und verwirklicht: Abkehr und Hinwendung. Es bedarf der Abkehr von all dem, was uns bei uns selbst und bei dem irdischen Lebensraum festhält und uns absperrt von der schöpferischen Berührung mit Gott. Es gibt eine notwendige Abkehr von der Menschenwelt, den Weg in die Einsamkeit und in die Stille, eben jenen Weg, der uns äußerlich und innerlich so bitter schwer gemacht wird. Wichtiger noch: Es gibt eine Abkehr von der eigenen Aktivität; von der Gefahr der vielen Worte, - darum die heilsame Übung des Schweigens! Abkehr von dem rastlosen Tun, darum eine Übung der Entspannung, der Gelassenheit, der Ruhe; wobei auch die äußere Hilfe der leiblichen Ruhe, der körperlichen Entspannung, des ruhigen Atmens nicht verschmäht werden darf.

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LeerDie Abkehr von Dingen, die wir als Güter und Genußmittel gebrauchen, ist auch der eigentliche Sinn des Fastens. Da ein eigener Aufsatz über die Bedeutung des Fastens in diesem Band leider fehlt, soll wenigstens hier daran erinnert werden, welche Rolle das Fasten in den biblischen Erzählungen und in der Erfahrung der christlichen Kirche spielt. Kann man, darf man an dem vorübergehen, was die großen Gottesmänner aller Zeiten an sich erfahren haben, wie Zeiten des Fastens gleichsam jene Verstrickung lockern können, in die uns die stofflichen Kräfte und Bedürfnisse unseres leiblichen Lebens immer wieder bannen, und dadurch den Menschen in besonderer Weise aufnahmebereit machen für jene heimliche Weisheit, die Gott uns wissen lassen will? Jesus selbst hat seinen Jüngern unmißverständlich gesagt, daß sie in einen Kampf mit Dämonen hineingestellt sind, denen sie nicht ohne Fasten und Beten gewachsen und überlegen sein werden (Matth. 17, 21). Kann und darf die Kirche an einem solchen Wort vorübergehen, als ginge es sie nichts an, und jede Ordnung des Fastens verschmähen, als hätte sie nun solche Kraftquellen nicht mehr nötig?

LeerSolcher Übung der Abkehr entspricht die Übung der Hinwendung. Geistliche Übung ist ein Weg, auf den wir uns begeben, der Aufbruch zu einem Ziel, auf das wir alle unsere Gedanken und Kräfte ausrichten. Darum fehlt auch das Bild der Wallfahrt nicht in der Reihe dessen, was uns die Heilige Schrift über den Weg des Glaubens berichtet und was wir aus ihr für unsere eigene Übung lernen wollen. Solche Hinwendung zu Gott vollzieht sich in dem Hören des Wortes, in dem Anschauen der heilsamen Zeichen. Sie verwirklicht sich in dem Gebet, in dem wir uns selbst Gott darbringen mit Geist, Seele und Leib. Wir lernen das Vaterunser neu erkennen als einen uns von dem Herrn selbst vorgezeichneten und eröffneten Weg, auf dem wir mitgenommen werden bis in das innerste Heiligtum der wesenhaften Einung mit Christus als dem wahren Brot, das uns nährt.

LeerHier kann und soll nur hingedeutet werden auf alle jene Möglichkeiten, die uns die Erfahrung und Weisung der Kirche selber darbietet und von denen die Aufsätze, die in diesem Jahrbuch vereinigt sind, wenigstens einiges beispielhaft entfalten. Aber eine Form geistlicher Übung bedarf hier noch eines besonderen hinweisenden und deutenden Wortes: die  M e d i t a t i o n . Wenn wir im Zusammenhang geistlicher Übung das Wort Meditation gebrauchen und denen, die zu uns kommen, anbieten, vielleicht auch dazu raten, sich die ersten Schritte auf dem Wege der Meditation führen zu lassen, dann machen wir immer wieder eine zwiefache Erfahrung. Da sind auf der einen Seite Menschen, - es sind freilich mit verschwindenden Ausnahmen nur Theologen, - bei denen sich hier alsbald die entschiedensten Widerstände und Hemmungen einschalten, die sich mit einem großen Aufgebot kritischer Bedenken dagegen wehren und andere vor solch gefährlichen Unternehmungen warnen; da sind auf der anderen Seite Menschen, die mit der größten Bereitwilligkeit und Dankbarkeit solche ihnen angebotene Hilfe ergreifen, das, was darin geschieht, als etwas ganz Selbstverständliches, jedenfalls aber als etwas Wohltuendes und Förderliches empfinden und zum Teil die stärksten Auswirkungen davon in ihrem persönlichen Leben erfahren.

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LeerEs trägt vielleicht zu einem richtigen Gesamtverständnis der geistlichen Übung wesentlich bei, wenn wir uns diese zwiespältige Reaktion auf „Meditation” (das Wort und die Sache) deutlich machen. Zunächst: Es kann keine Rede davon sein, daß wir damit eine Anleihe bei der uns wesensfremden und im Grunde unzugänglichen Weisheit des Ostens machen; ich hoffe, daß der Briefwechsel über „Ost und West” diesen Verdacht eindeutig zerstört. Wir nehmen vielmehr ein Erbe unserer eigenen Kirche wieder auf, das nicht die Reformation, sondern erst die Aufklärung hat verfallen lassen. Luther selbst hat die ganze meditative Schulung des späten Mittelalters in sich aufgenommen, hat Lehrbücher der Meditation zeitlebens eifrig zitiert und hat nie aufgehört, die Praxis der Meditation selbst zu üben und anderen zu empfehlen. (2) Aber diese Seite seiner eigenen Frömmigkeit, die die geistliche Erfahrung der mittelalterlichen Kirche in den Zusammenhang und in den Dienst der neuen Erkenntnis des Evangeliums stellte, ist unter uns fast gänzlich verloren gegangen. Wer unter uns weiß denn, daß ein Mann wie Calvin das Fasten empfiehlt, weil es so sehr geeignet sei, die Seele für die heiligen Meditationen zu bereiten? Wer vermutet als den Verfasser einer Schrift „Heilige Meditation zur Erweckung wahrer Frömmigkeit und zur Förderung des inneren Menschen” einen klassischen Dogmatiker der protestantischen Orthodoxie wie Johann Gerhard?

LeerAber was heißt denn das eigentlich, „Meditation”, und woher kommt es daß sie unter uns so sehr vergessen ist und ihr das Heimatrecht in unserer Kirche bestritten wird? Meditation ist eine besondere Art des Denkens. In diesem Denken ist unsere Aktivität, unsere kritische Stellungnahme gegenüber dem Inhalt ausgeschaltet, und wir sind passiv, das soll heißen empfangend und erleidend, der Sache hingegeben. Es hängt tief damit zusammen, daß wir in der Meditation nicht so sehr in Begriffen als vielmehr in Bildern denken; Meditation vollzieht sich in jener tieferen Schicht unserer Seele, in der wir alle in Bildern denken, so wie es das Kind fast ausschließlich und der Erwachsene im Träume tut. Es ist jene Schicht, in der sowohl unsere entscheidenden Erkenntnisse aufleuchten als auch alle schöpferische Gestaltung empfangen und geboren wird. Dies ist die Ursache für die unzweifelhafte Beobachtung, daß viele Menschen wesentlich leichter zu meditativer Versenkung gelangen, wenn sie Zeichen anschauen, während sie bei dem Versuch, etwa über ein Bibelwort zu meditieren, nur allzu leicht wieder auf die vertraute Bahn gedanklicher Auslegung zurücksinken.

LeerMeditation ist in jedem Fall eine reale Verbindung des Menschen mit einem geistigen Inhalt. Unsere Sprache drückt das aus, indem sie sagt: Wir „versenken” uns in eine Sache; und es ist ein und dasselbe, wenn wir sagen, daß die Sache sich in uns einsenkt. Unter den biblischen Gestalten ist insonderheit Maria das Urbild solcher Meditation; wenn von ihr erzählt wird: „Sie behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen”, so ist damit eben jenes Verhalten beschrieben, das wir meinen, wenn wir von Meditation reden. (3) Es ist sozusagen eine Fortsetzung ihrer Mutterschaft selbst, da die Seele in Wahrheit empfängt, den Keim eines neuen Lebens in sich aufnimmt, in sich hegt und trägt, und mit ihrem eigenen Blute verbindet, bis die Stunde der Erfüllung kommt, da das, was in der Stille bereitet ist zur Reife, als ein lebendiger Gedanke, als klare Erkenntnis, als heilsame Tat geboren wird.

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LeerSchließlich ist es der Meditation auch eigentümlich, daß sie wiederholt und also wirklich „geübt” werden will. Während unser Bewußtsein durch immer neue Inhalte wachgehalten werden muß, verlangen die tieferen Schichten unseres Seins danach, immer wieder mit der gleichen Speise ernährt zu werden. Darum gehört zu der „Einübung des Gesetzes” auch dies, daß wir Worte der Heiligen Schrift auswendig, oder vielmehr inwendig lernen, damit wir sie unermüdlich in uns wiederholen und immer von neuem bedenken können, daß wir schreibend sie uns einprägen. Aus dem gleichen Grunde erwarten wir wohl in der Predigt, die sich an unser bewußtes Denken wendet, neue Gedanken oder doch alte Gedanken in neuer sprachlicher Form; aber die Liturgie, das Herzstück aller geistlichen Übung, ist die festgeprägte Form, die in regelmäßiger Wiederkehr uns umfängt und sich eben dadurch tief in die verborgenen Untergründe unserer Seele versenkt.

LeerMeditation ist auch für uns nur eine Form geistlicher Übung, aber doch eine Form, an der die Bedeutung und die Lebensgesetze geistlicher Übung besonders deutlich werden. Hier wird die Kruste einer bloßen Bewußtseinskultur durchbrochen; hier wird der Mensch bereitet, wirklich in Verbindung zu treten mit der Sache, ihrem Blick und ihrem Anruf standzuhalten, wenn anders Gott ihm die Gnade solcher Begegnung schenken will. Sie enthüllt unerbittlich das eigene Innere und hilft dadurch dem Menschen den gefährlichen Wahn zu überwinden, er habe wirklich, was er doch nur weiß, und es geschehe in Wahrheit das, wofür er Formeln und Regeln kennt. Hier lernt der Mensch atmen, und das Beste an der Atmung ist doch das wundersame Geschehen, daß die Luft ohne unser Zutun einströmt in die leergewordene Lunge. Hier macht sich der Mensch auf, um der Einladung zu folgen, die ihn an den gedeckten Tisch ruft, und er weiß, daß Speise und Trank ihn sättigen und erquicken, - wenn er sie zu sich nimmt.

LeerMitten zwischen viel Zerstörung, Herzeleid und Sorgen um unsere Kirche wollen verschüttete Quellen neu aufbrechen. Wir haben um uns her so viele durstige, ja verschmachtende Menschen; und viele wohlgemeinte Ratschläge, die doch nur hohe Worte und unerfüllbare Zumutungen sind, gleichen den ausgehauenen Brunnen, die löcherig sind. Wir müssen tief graben und das Wasser schöpfen aus dem tiefen Grunde. In der Menschheitsnot dieser Zeitenwende glauben wir etwas Notwendiges zu tun, wenn wir sagen und weitergeben, was unsere Väter gewußt haben und was sich neu bewährt hat von dem Wert geistlicher Übung.

Anmerkungen:


1: So heißt es in den von den Wittenberger Reformatoren mitunterzeichneten Wittenberger Artikeln von 1536; vergl. den Aufsatz darüber von Rudolf Stählin in den „Theologischen Blättern” Nr. 5/6, 1937
2: Ich hoffe, daß in absehbarer Zeit ein jüngerer Theologe Dr. Erich Sander in einer umfassenden Arbeit über „Geistliche Übung bei Luther” das reiche und zum Teil überraschende Material, das er zu dieser Frage gesammelt hat, vorlegen wird.
[Anmerkung: Erich Sander ist vor Fertigstellung der Dissertation „Geistliche Zucht und Übung bei Luther” verstorben. Das Thema wurde von Martin Nicol aufgenommen (Meditation bei Luther - Göttingen 1984)]
3: Vergl. den Aufsatz von Wilhelm Thomas über „Versenkung” im Weihnachtsbrief 1931.

Das Gottesjahr 1938, S. 8 - 16
© Johannes Stauda-Verlag Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-15
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