titel

Startseite
Jahrgänge
1933
Autoren
Stichworte
Neue Seiten

Innere Mission heute
von Walter Stökl

Leer„Innere Mission” war einst unter Wichern ein Weckruf. Ein weitausgebautes Anstaltswesen evangelischer Liebestätigkeit und mannigfaltige Missionsunternehmungen evangelistischer und apologetischer Art sind auf diesen Ruf hin im Laufe der Jahrzehnte entstanden. Ein bewundernswert großes Werk! Was bedeuten die Namen Kaiserswerth, Rauhes Haus in Hamburg, Neuendettelsau, Bethel! Das sind gewiß außerordentliche Beweise lebendiger Geistwirkung in einem sonst geistlich so unfruchtbaren Zeitalter. Aber der Zerfall des protestantischen Kirchentums ist dadurch nicht verhindert worden. Eine durchgreifende Erneuerung und Erweckung ist von der Inneren Mission nicht ausgegangen. Sie hat sich neben der Kirche entwickelt, hat Einzelwerke, die der Kirche aufgetragen sind, in gesonderte Pflege übernommen, aber sie hat die Kirche selbst nicht eigentlich und wesentlich bestimmt, wie das etwa die Oxford-Bewegung in der anglikanischen Kirche getan hat.

LeerIn unseren Tagen haben wir nun den äußeren und inneren Zusammenbruch der Arbeit der Inneren Mission gerade an einem ihrer Mittelpunkte erlebt, einen Zusammenbruch, der hervorgerufen war durch die Anpassung an die liberal-kapitalistische Wirtschaftsmethode unserer Zeit. Das Großunternehmen Innere Mission, das Dachgesellschaften gründet und gewagte Finanzierungsaktionen unternimmt, ist durch die Devaheim-Katastrophe in unerhörtem Maße bloßgestellt. Dem äußeren Zusammenbruch liegen innere Fehlentwicklungen zugrunde, die es jetzt zu erkennen und zu bekämpfen gilt. Die wesentliche Aufgabe der Inneren Mission muß neu aus den Forderungen des Evangeliums erhoben werden. Das heißt dann zugleich, daß die gemeinsame Schuld und das Versagen der Kirche gesehen werden muß, die in diese Katastrophe hineingetrieben haben.

LeerDie Kirche hat zwar in wachsendem Maße im Laufe der Zeit ihr anfängliches Mißtrauen gegen die Innere Mission verloren und eine freundliche, anerkennende Stellung zu den Werken der Inneren Mission eingenommen, sich ihrer vielfach bedient. Aber Führung und Verantwortung überließ sie den freien, vereinsmäßigen Organisationen, im Gegensatz zum Protestantismus in England und Amerika, wo die charitative und missionarische Aufgabe der Kirche im Auftrag und unter Verantwortung der Kirche selbst geschieht. Die Innere Mission ihrerseits stand der Kirche lange Zeit sehr kritisch gegenüber, weil sie zu eng mit dem Staate verflochten sei - heute ist sie selbst mit dem Wohlfahrtsstaat der Gegenwart aufs engste verknüpft: sie lebt in hohem Maße von staatlichen Geldern. Manche Organisationen sind völlig in Abhängigkeit von dieser staatlichen Hilfe geraten, die man nun selbst so deutlich spürt, daß man wieder Ausschau zu halten beginnt nach tragenden Freundeskreisen in der Kirche, an deren freiwilligen Opfern man einen Rückhalt für die Arbeit haben könnte.

Linie

LeerEs ist ja so, daß der Staat nicht nur Geld gibt, sondern auch Forderungen stellt: die alle Lebensbereiche so stark umspannende soziale Gesetzgebung, das ganze Berechtigungswesen, die staatliche Wohlfahrtsbeamtenausbildung haben in nicht geringem Maße die Arbeit in den Mutterhäusern und Anstalten mitbestimmt. Dem Staat geht es um intellektuell begabte, praktisch wohl bewanderte Wohlfahrtsbeamte und Beamtinnen; im Mutterhaus aber muß es bei der Diakonissen- und Diakonenausbildung darum gehen, die Bereitschaft und die Kraft zum Dienst an allen Notleidenden so tief zu begründen, daß Brüder und Schwestern in der Lage sind, diesen Dienst in einer letzten Selbstlosigkeit „um Christi Willen” zu tun. Der technisch für diesen Beruf geschulte Mensch mit allen seinen Kenntnissen muß wissen, wozu all die reichen Mittel ärztlicher, erzieherischer und fürsorgerischer Maßnahmen eingesetzt werden sollen, er muß sie gebrauchen im Hinblick auf ein Ziel, das jenseits aller Staatsraison und gesellschaftlichen Klugheit liegt und nichtsdestoweniger den Hilfeleistenden in all seinem Wesen und Werk völlig bestimmt. Das heißt nicht, daß geistliche Führung, Wort und Sakrament, Gebet und Seelsorge schlechthin entscheidend sind für die Ausbildung der Kräfte der Inneren Mission.

LeerOder noch anders: die Innere Mission bedarf zur Ausrichtung ihres Auftrages ebenso sehr der Unabhängigkeit vom Staat wie der gehorsamen Eingliederung in den Organismus der Kirche. Das heißt aber von der andern Seite her gesehen: die Kirche kann die praktische Liebesübung und das christliche Anstaltswesen nicht privatem Belieben überlassen, sondern muß besondere Eingliederungen mit diesem Auftrag betrauen. Es handelt sich um das Konkretwerden der Verkündigungen der Kirche in der Liebesübung. Da genügt es nicht - was an sich zu begrüßen ist -, daß in der Leitung großer Missionswerke die verantwortlichen Führer der Kirche vertreten sind und daß umgekehrt manche Kirchenverfassungen der Inneren Mission Mitbestimmungsrecht einräumen. Wohl müssen die Werke der Inneren Mission frei bleiben von allem Verwaltungsbürokratismus - von welchem Kirchenwerk wäre das freilich nicht ebenso sehr zu fordern? -, aber alle ihre Organisationen müssen verpflichtete und verantwortliche Organe der Kirche selbst sein. Dann haftet die Kirche freilich auch ganz und gar für das Gedeihen, den wirtschaftlichen Bestand und die innere Führung der Inneren Missionswerke. Es ist hohe Zeit, daß die Innere Mission aus der engen, vereinsmäßigen Gestaltung, die immer die Gefahr der Sektenbildung und der Zerstreuung der der Gemeinde anvertrauten Gnadenkräfte in sich trägt, zum vollen, freien, gesamtkirchlichen Wirken, zum tatsächlich missionarischen Einsatz im Kampf der Kirche kommt.

Auch in der Arbeitsweise und Zielsetzung der Inneren Mission sind gegenwärtig Wandlungen im Gange, die nicht stecken bleiben dürfen. Man hat der Inneren Mission mit großem Recht vorgeworfen, daß sie sich nur des einzelnen, in Not geratenen Menschen annimmt und dabei oft ein bewundernswertes Zeugnis suchender und rettender Liebe gibt, aber den Übeln nicht an die Wurzel geht. Sie versorgt die Opfer einer zuchtlosen Lebenshaltung, einer falschen Wirtschaftsweise, der Familienverwahrlosung, aber den Kampf gegen die Grundschäden menschlichen Gemeinschaftslebens hat sie erst in der letzten Zeit stärker aufgenommen. Darin verleugnet die Innere Mission ihre Herkunft vom Pietismus nicht. Es ist aber ein Zeichen der Wendung vom Individualismus zum verantwortlichen Ringen mit den dämonischen, das Volk beherrschenden Mächten, wenn die Innere Mission jetzt in die Kampffront gegen den Alkoholismus mit größerer Entschiedenheit eingetreten ist, wenn sie die Frauenfrage und Mütternot als Ursachen weitgehender Volks- und Kindernot zu sehen beginnt, wenn sie neuerdings auch den Fragen der Eugenik, der Bevölkerungspolitik, der Sexualethik sehr ernsthaft nachgeht.

Linie

LeerEs sei hier verwiesen auf die Zusammenarbeit von Ärzten und Medizinern im Zusammenhang mit der Apologetischen Zentrale in Spandau, auf die Umstellung der Mitternachtsmission in Hamburg und auf das „Archiv für Bevölkerungspolitik, Sexualethik und Familienkunde” und die ganze Arbeit des Verlages „Dienst am Leben”. Das ist ein anderes Bild der Inneren Mission, als man es zu sehen gewohnt war. Ganz großzügig hat die Innere Mission praktische Arbeit zur Umschulung Arbeitsloser und Mithilfe in der Ostkolonisation in Angriff genommen.

LeerAber die ganze Struktur der Kirche wandelt sich ebenfalls. Der höhere Staatsbeamte mit theologischer Fachbildung, das bürgerlich wohl situierte Pfarrhaus, die kleinbürgerliche Volkskirche mit demokratischen Formen ist ein Pfarrer- und Kirchentyp, der nicht das Ideal bleiben kann. Der Miles Christi, der Priester und Hirte, der weiß, daß er in den Kampf gestellt ist, der in gehorsamer Einordnung im Auftrage seines Bischofs an der Front steht, die „kämpfende und leidende Kirche” ist das Kirchenbild der Zukunft. In der Inneren Mission ist eine Vorschule zur Erziehung von dienenden bedürfnislosen Kräften der Kirche gegeben, die ihren Dienst in einem geistlich geordneten und verbundenen Leben ausrichten.

LeerVon da her wird die Tatsache, daß es in der Inneren Mission eine große Zahl von Stätten christlichen Gemeinschaftslebens gibt, für die Zukunft bedeutungsvoll. Von verschiedenen Seiten kommt heute der Ruf nach dem „evangelischen Kloster”, nicht als nach einem Ort selbstgerechter Werkfrömmigkeit, sondern als nach einer Stätte innerer Besinnung und Rüstung. An diesen Stätten kann, wenn Wort und Sakrament, Seelsorge und Kultus als Mittelpunkt des ganzen Lebens gesehen und gestaltet werden, unserem Geschlecht aufgehen, was Kirche ist. Das ist der Dienst, den die Diakonissenmutterhäuser, die Diakonenanstalten, die mannigfaltigen Erholungsheime für alle Stände und Schichten des Volkes heute tun sollten: Stätten sein, in denen Kirche wird. Sollte nicht eine Stätte wie Bethel oder Neuendettelsau für das innere Leben der Kirche die gleiche Bedeutung gewinnen können wie Beuron oder Maria Laach für die Erneuerung des Katholizismus aus benediktinischem Geist?

LeerEs gibt eine Diasporakirche, die uns zeigt, wie eine Anstalt der Inneren Mission zum Mittelpunkt einer ganzen Kirche werden kann: die evangelische Kirche in Klein-Polen (Galizien) unter der Leitung D. Zöcklers ist die kleinste und ärmste (äußerlich gesehen) von den evangelischen Kirchen Polens, aber sie hat in dem „Bethel des Ostens”, in den Stanislauer Anstalten einen geistlichen und zugleich kulturellen Mittelpunkt; wie dort Kinderheim und Schwestermutterhaus, landwirtschaftliche Maschinenfabrik und Gymnasium in eigenartiger Weise zusammenwirken für die deutschen Kolonistendörfer dieses Teiles von Polen, das ist im Grunde nichts anderes als was die Zisterzienserklöster vor allem im deutschen Osten zur Zeit der Kolonisation des 11. Jahrhunderts darstellen: da Land und Volk gewonnen werden mit Pflug und Schwert, mit Gebetbuch und Liederpsalter, mit Wort und Sakrament.

LeerDas Leben der Kirche wird in unserer Zeit ans solchen Stätten sich wieder erneuern müssen, während die vorstädtischen Massengemeinden nur dann eine Verheißung haben, wenn sie mit ihren Gliedern siedelnd die Großstadt überwinden.

Das Gottesjahr 1933, S. 98-102
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-12
TOP

Impressum
Haftungsausschluss