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Der Kollektivmensch
von Ludwig Heitmann

LeerIn keiner Lebenserscheinung findet die innere Spannung zwischen West und Ost und zugleich die tiefe innere Schicksalsgemeinschaft beider Welten einen so anschaulichen Ausdruck wie in dem schillernden Bilde des „kollektiven Menschen”. Seine, von außen gesehen, fest geprägte Form hat es in der Westwelt empfangen: ein rationales Gebilde, das sich als typische Verfallserscheinung der westlichen Zivilisation darstellt. Seine sieghafte Wirkungskraft aber gab ihm der Osten: von Rußland her erobert es als Sehnsuchts- und Hoffnungsbild immer breitere Gebiete nicht nur des fernen Ostens, sondern auch der Westwelt, und zwar keineswegs ausschließlich in den proletarischen Massen, sondern ebenso sehr in einer wachsenden geistigen Schicht, die von diesem Menschenbilde die endgültige Überwindung des „bürgerlichen Menschen” erwartet; ja auch die große aufsteigende völkische Bewegung gehört, auf die Hintergründe gesehen, mit in diesen Zusammenhang.

LeerDiese West und Ost übergreifende Bewegung auf den kollektiven Menschen hin wird erst verständlich, wenn man beachtet, daß hinter diesem rationalen Oberflächenbilde ganz tiefe Beziehungen zu kollektiv bestimmen Lebensschichten und Lebenshaltungen liegen, die bis in die letzten religiösen Untergründe reichen. Am Anfang und am Ende der menschlichen Entwicklung stehen Grundformen des kollektiven Menschen, für die das rationale Bild, das heute über die Erde wandert, nur ein Zwischenspiel bedeutet. Auf diesem Zwischenfelde aber bahnen sich letzte religiöse Entscheidungen an.

LeerWenn der stammesgebundene Neger Afrikas von seiner Arbeit auf den Farmen und in den Urwaldrodungen der weißen Zivilisationsträger in sein heimatliches Dorf zurückkehrt, dann gibt er, was er an Geld, Tabak oder Lebensmitteln empfangen hat, an den Stammesältesten ab, der den ganzen Erlös auf die Glieder des Stammes je nach ihrer besonderen Stellung verteilt. Er selbst empfängt nur das, was ihm nach seiner Stellung im Ganzen zukommt Wir haben heute aus den Berichten von Missionaren und Forschern sehr anschauliche Bilder von der kollektiven Lebensform dieser sogenannten Primitiven, die alle Lebensäußerungen bis hinein in die Denkform beherrscht. Hier liegt eine ganz geschlossene Lebensform vor uns, auf deren Untergrunde sich unser aller Leben noch abspielt, die viel mächtiger ist als die rationalen Oberflächengebilde, die menschliche Kunst und Technik darüber gewoben hat.

LeerAuf der anderen Seite der menschlichen Entwicklung steht aber ein kollektives Menschenbild, dessen gleichnishafte Grundform in den Sätzen der Apostelgeschichte uns gegeben ist: „Die Menge aber der Gläubigen war ein Herz und eine Seele; auch keiner sagte von seinen Gütern, daß sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemein.” (Apg. 4, 32). Es ist das Verheißungsbild der neuen Schöpfung, der christlichen Gemeinde am sichtbarsten vor das Auge gestellt in der Feier des Herrenmahles.

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LeerIn der alten und in der neuen Schöpfung finden wir also den Kollektivmenschen, beide schon durch die Grundform der Gliedhaftigkeit, noch stärker aber durch das jeweilige Lebensprinzip von dem rational-kollektiven Menschen unserer Tage geschieden. Niemals aber werden wir diesen in seiner Bedeutung für die Gesamtlebensentwicklung in West und Ost durchschauen, wenn wir ihn nicht in strenger Bezogenheit auf diese wesentlichen Grundformen des kollektiven Menschen sehen. Nur von diesem Hintergründe wird es verständlich, daß das gleiche rationale Menschenbild in West und Ost auftauchen konnte, daß aber in beiden Fällen dies Bild eine ganz verschiedene Funktion in der jeweiligen Entwicklungsphase hat, im tieferen Sinne freilich einer großen Gesamtentwicklung dienen muß.

LeerDas rationale Oberflächenbild des kollektiven Menschen wird übereinstimmend gezeichnet in der orthodox-marxistischen Literatur des Westens, in den russischen Revolutionsschriften, in den Erziehungsbemühungen um den kollektiven Menschen aller Schattierungen. Es ist der Normaltyp des Menschen der Aufklärung, gleichförmig vernunftgemäß durchkonstruiert, in Kleidung, Lebenshaltung, geistiger Durchbildung, in Recht, Sitte, Weltanschauung streng auf eine Fläche gezogen. Die Form des Gemeinschaftslebens, die zu seinem Wesen gehört, ist die rational aufgebaute Organisation, deren Machtwille sich in dem wuchtig gleichförmigen Schritt offenbart, deren Spitze in dem durch Willen und Verstand sich durchsetzenden Beauftragten heraustritt. Der Lebenstrieb der so gebändigten Vielheit ist streng auf die dem Zugriff des Verstandes sich erschließende diesseitige Welt, das heißt ganz beherrschend auf das Wirtschaftliche gerichtet. Die geistige Seite wird auf diejenigen Gebiete beschränkt, die mit diesem Lebenstrieb eine leichte Verbindung eingehen, d. h. wesentlich auf Wissenschaft und Kunst, beide freilich bereits in verzerrter Gestalt. Denn im Prinzip ist der so durchkonstruierte und zur Masse zusammengebändigte Kollektivmensch religionsfeindlich.

LeerDies Bild enthüllt sich auf den ersten Blick als ein Produkt der Westwelt, und zwar als eine Verfallserscheinung der ablaufenden Renaissance-Periode. Der Kernpunkt des Renaissance-Menschen, der in sich selbst ruhende und sich selbst durchsetzende Ichwille, ist in ihm bereits in der Auflösung begriffen. Noch lebt er in dem ungezügelten eudämonistischen Drang der vielen Einzelnen und in dem optimistischen Glauben der Masse an die Möglichkeit rational-technischer Weltbeherrschung; aber der in sich selber schwingende eigenmächtige Lebensglaube, der personalistische Eroberungsdrang, das Hochgefühl und die sittliche Kraft eigener Verantwortung ist in der weiten Masse bereits erstorben und findet nur einen letzten, allerdings bereits entstellten, Ausläufer in den Einzelgestalten diktatorischen Machtwillens, die auch nur auf dem Untergründe großer Massenimpulse aufsteigen und lebensmächtig bleiben können. Die großen selbständig schaffenden Wirtschaftsführer und Techniker werden in demselben Maße seltener wie die Masse und die Massendiktatoren sich im Lebensganzen durchsetzen.

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LeerDieser rationale Kollektivmensch findet sich heute im Westen wie im Osten, aber er erfüllt an beiden Stellen eine ganz verschiedene Funktion. Denn es ist ein durchgreifender Unterschied, ob er am Ende oder am Anfang einer rationalen Epoche erscheint Der Kollektivmensch des Westens ist eine Enderscheinung. Der Lebenswille des Renaissancemenschen ist erschöpft. Seine verzerrten Übersteigerungen offenbaren schon in unseren Tagen seine Ohnmacht und Zersetzung (Kreuger). Das Leben als Ganzes sinkt bis in die Schichten des Bürgertums in die Müdigkeit des Massendaseins hinab. Aus der Tiefe aber brechen in das morsche Gemäuer der technischen Oberflächengestalt die Urinstinkte des Lebens, sich enthüllend in den verschiedensten Formen des Massenwahns und der Massenhoffnung.

LeerAber selbst diese gleicht bereits dem euphorischen Zustände eines vom Tode Gezeichneten; sie bringt es nicht mehr zu einer durchgreifenden Gestaltung, sie verfällt entweder dem Rückfall in die Verbürgerlichung - die sozialistische Seite - oder dem Schicksal immer hoffnungsloserer Proletarisierung - die kommunistische Seite. Der Charakter der organischen Urkräfte, die in der völkischen Bewegung aufsteigen, ist noch nicht klar zu durchschauen; aber auch er trägt unverkennbar lebensschwache romantische Züge und Zeichen der Zersetzung. Ein deutliches Symptom der inneren Schwäche des westlichen Kollektivmenschen zeigt sich auch darin, daß er seine Hoffnung weithin auf den Osten stellt, weil er hier noch stärkere und ungebrochenere Lebenskräfte wittert.

LeerMit Recht! Denn hier hat sich das rationale Bild des Kollektivmenschen über einen Untergrund geschoben, der noch in ganz großen Lebensschichten die naturgewachsene Form des ursprünglichen Kollektivmenschen in sich birgt. Nicht nur in Rußland, sondern auch in weiten Gebieten Asiens (und Afrikas) lebt noch eine gewaltige Urschicht primitiven Menschentums, das den kollektiven Lebensformen der naturgewachsenen Menschheitsstufe noch sehr nahe steht. Dieses Menschentum steht nicht am Ende, sondern am Anfange seiner Rationalisierung, und es wird in diese hineingezogen durch die seinem innersten Grundtriebe entsprechende Form der ratio, durch das rationale Bild des kollektiven Menschen.

LeerNur wenn dieser Zusammenhang gesehen wird, wird die ungeheure Leidenschaft erklärlich, mit der in allen diesen dem primitiven Leben noch nahe stehenden Schichten der Gedanke der kollektiven Rationalisierung aufgegriffen wird; wird auch deutlich, warum die erste leidenschaftliche Abstoßung sich gegen die Kirchen richten mußte; wird ferner die Tatsache verständlich, warum etwa in Rußland eine vorlaufende bürgerliche Form der Rationalisierung, die sich dort bereits seit Jahrhunderten in einer Oberschicht vollzogen hatte, durch einen Strom von Blut radikal beseitigt wurde, damit die Bahn frei würde für die wesensgemäße Form der Rationalisierung; wird auch deutlich, warum - zum äußersten Erstaunen der ganzen Westwelt - eine so gewaltige, das ganze Leben übergreifende Kollektivierung auf russischem Boden möglich war. Die noch ungebrochenen Triebkräfte einer älteren naturhaft-kollektiven Epoche strömten hier in das eine neue Lebensstufe verkörpernde Rational-Bild hinein.

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LeerFreilich gerade hier wird auch die Grenze des aus dem Spätstadium einer rationalen Epoche stammenden Bildes des kollektiven Menschen sichtbar. Der innerste Wille aller Rationalisierung ist auf den Ichmenschen gerichtet. Man kann die durchgereifte Technik einer älteren rationalen Epoche nicht einem ursprünglich-kollektiven Menschentum aufpflanzen, ohne es in eine doppelte Gefahr zu bringen: auf der einen Seite wird trotz aller hemmenden Gegenkräfte doch das individuelle Herrschaftsmenschtum entfesselt - eben das vollzieht sich heute in den ersten Anfängen in der Kapitalisierung Rußlands -; auf der anderen Seite werden durch eine verfrühte Rationalisierung große Schichten naturgebundenen Menschentums einfach zerstört - Beispiele dafür sind etwa in dem Millionensterben großer Stammesgruppen Afrikas bereits historisch geworden.

LeerDaß in diesem gewaltigen Umlagerungsprozeß, der sich hinter dem die Völkerwelt der ganzen Erde überschreitenden Bilde des kollektiven Menschen vollzieht, eine neue religiöse Situation von unabsehbarer Tragweite auf uns zukommt, ist schon heute deutlich. In der Westwelt spaltet sich unter diesem Bilde das Leben in eine zerfallende und erstarrende individualistisch-kapitalistische Seite und ein aufsteigendes Massendasein, in dem sich immer deutlicher und in mannigfachen Formen der Durchbruch der Tiefenmächte vollzieht, in dem also eine neue Hintergründigkeit des Lebens, eine neue „sakramentale Situation” sichtbar wird. In der Ostwelt aber steht das Leben vor der Aufspaltung in einen aufsteigenden Kapitalismus und eine zurücksinkende Schicht, in der die kollektiven Lebensmächte der Vergangenheit wieder ihr Recht fordern und einer neuen religiösen Gestaltung zudrängen.

LeerDie Kirche hat allen Grund, sich um diese Umlagerungen des Lebens zu kümmern. Die aus der großen Umschichtung des Ostens heraufsteigende Aufgabe der östlichen Kirche ist heute noch nicht zu übersehen. Sicher aber scheint zu sein, daß sie in der Doppelaufgabe, einerseits die Kräfte der sakramentalen Kirche in neuer Durchformung in die Massen zu leiten, und andererseits der aufsteigenden individualistisch-aktivistischen Schicht eine neue Kirchenform gegenüberzustellen, den Blick sehr viel stärker nach dem Westen wird richten müssen. Die Westkirche aber wird in der auf sie zukommenden neuen Aufgabe, in die einer neuen sakramentalen Situation sich nähernden Massen die göttliche Botschaft zu tragen, eine starke Wendung nach dem Osten vollziehen müssen. In demselben Maße, wie das rational bestimmte Menschentum der Renaissanceperiode, dessen Dienst die protestantische Kirche so gut wie völlig erlegen ist, einem neuen kollektiven Menschentum weicht, für das das rational-kollektive Menschenbild nur der Schrittmacher ist, wird sie selber sich der kultisch-sakramentalen Lebensform wieder annähern müssen, die in der protestantischen Entwicklung fast ganz verloren gegangen ist. Auch für sie wird der Epheserbrief wieder neben den Römerbrief treten.

Das Gottesjahr 1933, S. 87-91
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-12
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