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Zwischen Protestantismus und östlichem Christentum
von Fedor Stepun

LeerAls reformiert getaufter und konfirmierter, zugleich aber auch als ein unter dem Einfluß der russischen Ostkirche ausgewachsener Mensch, suche ich, seit ich vor zehn Jahren wieder nach Deutschland übersiedelt bin, die Tatsache meines Nicht-Zurückfindenkönnens zum Glauben meiner Väter im Spiegel der Tragödie des heutigen Protestantismus zu begreifen. Da ich annehmen darf, daß die Eigenheiten und Schwierigkeiten meines persönlichen Weges gerade für einen weiteren Kreis von einiger symptomatischer Bedeutung sein dürften, will ich es versuchen, einiges über sie hier auszusagen.

LeerDie entscheidende und alles in sich einschließende Tatsache ist, daß mir in der protestantischen Welt das unbewußt-selbstverständliche Wissen um das Wesen der Kirche zu fehlen scheint. Auch der ergreifendste protestantische Gottesdienst, also ein solcher, wo die Predigt ausnahmsweise kein interessanter oder erbaulicher Vortrag gewesen ist, sondern eine wirkliche Verkündigung des Wortes Gottes, erreicht, für mein Empfinden wenigstens, niemals den Grad religiös-mystischer Nahrhaftigkeit, wie er der kümmerlichsten ländlichen ostkirchlichen Liturgie eignet.

LeerIch bin mir der theologischen Tiefe des Problems von Predigt und Liturgie durchaus bewußt und will gerade darum es nicht versuchen in diese Tiefe hineinzuleuchten. Nur ganz laienhaft möchte ich meiner Meinung, vielleicht richtiger meiner Beobachtung, Ausdruck geben, daß der Unterschied des protestantischen, durch die Predigt bestimmten und des ostkirchlich-liturgischen Kirchenerlebnisses vor allem dadurch gekennzeichnet ist, daß der protestantischen Gemeinde das selbstverständliche Gefühl dafür abgeht, daß die Kirche nur zum geringen Teil aus lebenden Menschen besteht, zum größten Teil aber aus Verstorbenen. Dieses Unbelichtet-Sein der Kirche der Heiligen und der unsterblichen Toten erlebt jeder mit der Ostkirche innerlich verbundene Christ wohl am eindringlichsten bei protestantischen Totenfeiern. In der ganzen Art, wie hier die gottesdienstliche Haltung und Handlung ihre Blicke von der Bahre wegwenden um die Hinterbliebenen zu trösten, fühlt man, daß für den Protestantismus der Verstorbene sehr viel mehr Dasein und Bedeutung hat, als der Unsterbliche. Ich weiß mich noch genau zu erinnern, wie ich einst, im Kriege, bei Gelegenheit der Bestattung eines Deutsch-Russen aus der unerträglichen Leidensenge einer protestantischen Totenfeier durch das ganz dem Jenseits Zugewandte: „Gott befriede ihn mit den Heiligen” des russischen Kirchenchores erlöst wurde.

LeerMit dieser Verengung der mystischen Basis des Kirchenerlebnisses, welche sich aus der deutschen Geistesgeschichte erklärt, hängt es wohl zusammen, daß das Kirchenerlebnis auf protestantischem Boden leichter, als es eigentlich geschehen dürfte, in verschiedene - ihrer Haltung nach religiöse, ihrem Gehalte nach aber profane - Gemeinschaftsformen einfließt und dort nicht selten auch versandet. Die Art, wie beispielsweise heute einige religiössozialistische Pfarrer zu Marx und Proletariat und nationalsozialistische zu Blut und Rasse stehen, wie Christus einerseits zu einem proletarischen Menschheitsführer, andererseits zu einem arischen Volksführer umgedeutet wird, wie an Stelle der einen Kirche Christi verschiedene Jesusgemeinschaften wachsen, hat etwas gerade zu Erschütterndes und weiter kaum zu Ertragendes an sich.

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LeerIm Unterschied zur römisch-katholischen Kirche hat die Ostkirche russischer Prägung das Bewußtsein ihrer Mitglieder nie in das Prokrustesbett einer autoritativen Weltanschauung zu zwingen gesucht. Auf ihrem Boden ist eine Reihe sehr verschiedener und zumeist nicht von Geistlichen, sondern von Laien geschaffener theologisch-metaphysischer Systeme gewachsen. Den Sinn für ein freies Denken und christliches Schöpfertum bringt also die Ostkirche, als eine Verständigungsbasis mit dem Protestantismus, durchaus mit. So wie ich persönlich die Ostkirche sehe, würde ich sogar die Formulierung wagen, daß sie nur das Leben in Christo autoritativ zu betreuen sucht, dem christlichen Denken und Schaffen aber weitgehende Freiheit läßt. Es ist also nicht die Mannigfaltigkeit religiöser Weltanschauungen und Standpunkte, die mir am heutigen Protestantismus untragbar scheint, sondern die Angst, daß ihnen allen die gemeinsame religiöse Wurzel fehlt: eine innere Verbundenheit in dem ens realissimum eines in alle Ewigkeit sich gleich bleibenden transsubjektiven Christus-Erlebnisses.

LeerDer Ort, wo dieses Erlebnis bewahrt und gepflegt wird, kann nur die Kirche sein; die Kirche im Sinne eines „Pleroma” Gottes (Eph. 1, 23) und eines mystischen Leibes Christi; die Kirche, in die wir, wie in ein uraltes und durch alle Zeiten hindurch ewiges, zugleich kosmisches und geschichtliches Gotteshaus eintreten, in dem unsere Mitchristen vor hundert und fünfhundert, vor tausend und bald zweitausend Jahren vor Ihm gestanden und zu Ihm gebetet haben. Nur diesem mystischen Erlebnis eines sich in die Unendlichkeit öffnenden Kirchenraumes kann dasjenige Gefühl tiefster Ruhe entquellen, das uns einsame Menschen unserer gottfernen Zeit stärken und trösten kann. Nur die Ruhe, die uns aus den kosmisch-geschichtlichen Weiten der Kirche anweht, kann uns die Kraft zur Überwindung unserer Ohnmacht und Entwirrung unserer Wirrnisse verleihen.

LeerDer protestantische Gottesdienst weiß uns diese Ruhe, diese Kraft und diese Stärkung nicht immer zu geben. Gerade darum, weil er in Gestalt der Predigt sich den Nöten, Sorgen, vor allem aber den Eigenheiten unserer Zeit oft bis zur Hilflosigkeit offen zeigt, vermag er es nicht sich über die Zeit zu erheben, und darum auch nicht der Zeit zu helfen.

LeerGehe ich in die protestantische Kirche, so höre ich hier einen liberalen Pfarrer aus der Schule Schleiermachers, dort einen Sozialisten, der in sublimierter Form die Feuerbachsche Anthropologie in seinen Predigten verarbeitet, und an dritter Stelle vielleicht einen konservativen dialektischen Theologen, dem Kierkegaard über die Schultern schaut.

LeerAlle diese für keinen protestantischen Pfarrer (der dazu verurteilt ist, die Worte Gottes auch in der Kirche durch seine menschlichen Worte uns nahe zu bringen) ganz zu überwindenden Schwierigkeiten sind in der, meiner Ansicht nach, irrtümlichen Annahme verwurzelt, als sei Christus, als Wort Gottes, für uns nur in Seinen eigenen Worten und in den Worten Seiner Jünger und Apostel über Ihn zu erfassen. Dem ist wahrlich nicht so. Mir scheint es eine große Weisheit der katholischen, besonders der ostkirchlichen Passionsgottesdienste zu sein, daß sie die Leidensstationen Christi uns nicht nur in den Worten des Evangeliums erzählen, sondern als ein lebendiges. Mysterium in unseren Seelen aufzurichten suchen. Mit ihrem symphonisch-symbolischen Aufbau appellieren sie an denjenigen Punkt unserer Seele, in dem bei uns alles, nicht nur zunächst, sondern auch zuletzt und zuhöchst bei einander liegt: Gefühl und Wille, Verstand und Phantasie, Geist und Sinnlichkeit. Sie lassen nichts an uns ungewandelt, heben wenigstens für die Zeit des Gottesdienstes uns ganz aus unserer Zeit heraus und machen uns damit zu Zeitgenossen Christ, zu Augen- und Seelenzeugen seines Leidensweges.

LeerDas unbeschreibliche Gefühl schon damals dabei gewesen zu sein, oder anders das Gefühl, es gehe alles erst in unseren Tagen vor sich, habe ich in der protestantischen Kirche nie so stark erlebt, wie in der Ostkirche. Mit ein Grund dafür ist wohl darin zu suchen, daß der Protestantismus mich immer in meine Zeit zurückwirft, daß er durch die individuelle Art der Predigt mich immer zur Auseinandersetzung aufruft, dabei aber, trotz des gemeinsamen Singens dem Kernstück des Gottesdienstes, der Predigt gegenüber zur Passivität verurteilt. Ganz anders die Ostkirche: sie reißt mich aus der Zeit heraus, bringt alles Individuelle in mir zum Schweigen und ruft mich zugleich zur höchsten Aktivität auf. Indem ich mich bekreuzige, in die Knie sinke und wieder aufstehe, die Kerze an der Kerze anzünde und wieder auslösche, vor das Kreuz trete und es küsse, habe ich das Gefühl an dem gottesdienstlichen Mysterium teilzunehmen: - ich lege schweigend meine Stimme in die Anrufungen Gottes und fülle mit der Inbrunst meines Herzens das beredte Silentium des Gottesdienstes. Von den Wänden schauen mich die Gestalten der Heiligen an. Das Wissen um ihr Streiten und Leiden erhöht mein christliches Gedächtnis. Die Gemeinde der unsterblichen Toten betet mit. Der Klang, der Duft, der Rauch der Kirche, ihre ganze Schönheit - dieser sichtbare Leib der christlichen Wahrheit - ist noch derselbe. Und ich stille meinen geistigen Hunger durch den Genuß dieses Leibes ganz in derselben Weise, wie das die Kirche seit je getan hat. Das stärkt und trägt.

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LeerMit allem gesagten soll in keiner Weise einer hektischen Romantik oder einer weltfremden Asketik das Wort geredet werden. Im Gegenteil; durch die große antichristliche Offensive, die der Bolschewismus begonnen hat, sind wir alle aufgerufen die christlichen Positionen vor allem auf sozialem und politischem Gebiete zu verteidigen. Wir stehen heute alle vor derselben Aufgabe, welche Dostojewski; dem jungen Alescha Karamasoff zugedacht hatte, als er ihm das Kloster verbot und in die Welt schickte. So sehr es aber einerseits wesentlich ist, gerade heute das Christentum in der Welt zu verteidigen und es mit allen Tagesfragen in Beziehung zu setzen, so sehr tut es andererseits Not zu begreifen, daß ein Christentum, das sich nur der Zeit zuwendet und anpaßt, aber nicht mehr geöffnet ist für die Mysterien einer oberen Welt der Vollendeten, auch der Zeit nicht mehr das bieten kann, dessen sie bedarf.

Das Gottesjahr 1933, S. 73-77
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-12
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