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Die Wendung nach dem Osten
von Ludwig Heitmann

LeerWie tief das Naturgeschehen und das geschichtliche Schicksal ineinander liegen, wird uns heute an der Schicksalswende zwischen West und Ost eindringlich zum Bewußtsein geführt. Die Tatsache, daß das Gestirn des Lebens im Osten aufgeht und im Westen in die Nacht versinkt, hat seit den Urtagen das Lebensgefühl und die Lebensgestaltung der Menschen und der Völker tief beeinflußt. Der Beter, der sein Antlitz gen Osten wandte, der Tempelbauer, der die Wohnstätte der Gottheit nach dem Osten ausrichtete, der Siedler, der Wege und Häuserbauten streng auf die Himmelsrichtung einstellte, der Sonnenanbeter, der sein Tagesopfer beim Aufgang und beim Niedergang des großen Gestirns darbrachte, die Völker, die die Gräber ihrer Toten in den Westen legten - sie alle haben um die tiefe Abhängigkeit des Lebens von dem Lauf des Tagesgestirns gewußt. Dies Wissen ist auch in der Kirche aufbewahrt geblieben. Die Orientierung der Gotteshäuser unserer Väter legt Zeugnis davon ab, daß auch die große Lebenshoffnung auf die zweite Schöpfung, die mit Christus aufgegangen ist, in der Grundordnung der ersten Schöpfung ihr wesentliches Gleichnis gefunden hat.

LeerDie zwischeneingekommene technische Eroberung und Vergewaltigung der Natur hat dies Urgesetz nicht zerstören können. Im Schicksal der Völker wird uns heute deutlich, daß es ein mächtigeres Naturgesetz gibt als das von Menschen konstruierte. Aufgang und Niedergang des Völkerlebens erweisen sich heute als hineingestellt in die Ordnung des kosmischen Geschehens. Daß der Strom des Lebens gen Westen rollt wie das große Tagesgestirn, daß im Osten die Geburtsstätte des Lebens liegt, daß im Westen die Nacht, der Untergang und der Tod ihre Stätte haben, dafür geht erste Ahnung wieder in den Tiefen der Völker auf.

LeerDie geschichtliche Überschau über das Völkerleben läßt in aller Verworrenheit und trotz aller Gegenschläge dennoch eine Grundströmung erkennen. Es ist ein Gefälle da nach dem Westen. In den Stadien der Ausfaltung drängt das Leben immer wieder in die gleiche Richtung; die Völkerwanderung, der Sturm der Mongolenhorden, der Eroberungszug des Islam, die Türkenangriffe, der Strom der Wirtschaftsentwicklung der Neuzeit sind uns vertraute Beispiele. Die Vorstöße nach dem Osten, die in der uns nahe liegenden Geschichte Bedeutung gewonnen haben, die Kreuzzüge, die Deutschritterbewegung, die Ostsiedlung etwa in Siebenbürgen oder an der Wolga, erweisen sich als spezifisch religiöse Gegenschlage. Das Schwergewicht des „Fleisches” drängt nach dem Westen.

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LeerWie stehen heute am Ende einer solchen Westbewegung. Die lutherische Reformation drängte noch nach dem Norden; der der Renaissancebewegung näher stehende Grundstrom der reformierten Kirche entfaltete sich in mächtiger Ausladung nach dem Westen. Es ist nicht Zufall, daß als eines der entscheidenden Ereignisse, die die Neuzeit einleiten, die Entdeckung Amerikas genannt wird. Die Fahrt der „Mayflower”, das Überspringen des Funkens der französischen Revolution auf den neuen Kontinent, der Strom der Auswanderer des 19. Jahrhunderts in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sind Punkte der Erinnerung, die die Grundrichtung eines ganzen Zeitalters kennzeichnen.

LeerHeute liegt der Schwergewichtspunkt der Zivilisation ohne allen Zweifel im Westen. Das aufgehäufte Gold in Frankreich und Amerika ist das gleichnishafte Ergebnis einer klar ausgerichteten Wirtschaftsepoche. Die Lawine hat ihr Tal gefunden. Der Rückstoß, der sich besonders seit dem Weltkriege in einer Überflutung unseres Kontinents mit den Zivilisationswerten der Westwelt bis nach Rußland hinein geltend macht, findet aber bereits eine neue Situation vor. Wohl trifft er an der Oberfläche noch auf volle Aufnahmebereitschaft, in der Tiefe ist aber längst die Gegenströmung spürbar. Während die äußere Gestalt unseres ermatteten Volkes ganz westlich geworden ist, wendet sich seine erwachende Seele gen Osten.

LeerDiese Wendung ist ihrem innersten Wesen nach eine Glaubenswendung. Sie läßt sich darum nicht äußerlich beweisen. Nur dem Sehendgewordenen und in die Tiefe Lauschenden erschließen sich die Symptome. Wir wollen uns einige gegenwärtig halten.

LeerIn der nächtlichen Vision des Völkerkrieges hat der deutsche Soldat den Westen hassen gelernt und den Osten entdeckt. Das Grauen vor der kalten Technik der Westfront hat sich der deutschen Seele viel tiefer eingeprägt, als die Kriegsliteratur es ahnen läßt. Die Enttäuschung über Wilsons 14 Punkte war nur das letzte Siegel auf die Erkenntnis, die in viel tieferen Schichten längst aufgegangen war. Auf der anderen Seite hat der deutsche Soldat mitten durch alle Schrecken des Krieges, der Gefangenschaft und der Revolution „das große Kind”, den russischen Menschen kennen und lieben gelernt. Hier im Osten hat sich ihm der „magische Raum” erschlossen, den seine eigene Seele heute wieder sucht. Einmal geöffnet, kann er sich nicht endgültig wieder schließen.

LeerDie Jugendbewegung war ein Tasten nach diesem Raum. Ob er auch durch die Allgewalt der überflutenden westlichen Technik für kurze Zeit wieder abgeriegelt worden ist, bricht er doch wieder auf in der völkischen Bewegung. Hinter der „Autarkie” steckt viel mehr als ein Wirtschafts-Programm: in ihr lebt der seelische Protest gegen die Westwelt, die gläubige Hoffnung auf einen neuen Lebensraum.

LeerWenn ich selbst mich heute frage, welche Bücher ich in den letzten 20 Jahren mit meiner Seele gelesen habe, so heben sich ganz eindeutig aus dem Wust der Literatur, der pflichtgemäß verschlungen werden mußte, die Ostbücher im weitesten Sinne heraus, die den Raum der Welt von Rußland über den vorderen Orient bis hin in den fernen Osten mir erschlossen. Sie sind mir bis hinein in die Werke östlicher Philosophie die Quelle der Wärme, des Lebens, der Kraft und der Hoffnung geworden mitten in der eisigen und zerschneidenden Welt westlicher Verstandesschärfe. Es ist erstaunlich, wie vielen Menschen man begegnet, denen es ähnlich ergangen ist.

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LeerAuch im Leben der Kirche ist diese Wendung deutlich. Schon die in eine neue Zukunft weisende Krisis der Mission ist von der Entdeckung dieses neuen Raumes aus zu verstehen. Die sogenannte „Heidenwelt” ist uns nie so lebendig nahe gerückt wie in unseren Tagen der Problematik und Neuorientierung aller Mission. Auch die Wandlung in der Theologie steht im Zusammenhang mit der Wiederentdeckung des Ostens. Es ist nicht Zufall, daß Dostojewski selbst der Barth'schen Theologie Geburtshilfe geleistet hat. Im kirchlichen Amt vollzieht sich heute immer deutlicher die „Hinwendung zum Altar”. Die Grundfrage des geistlichen Amtes in der hinter uns liegenden Generation war noch diese: „Wie verkündige ich die Botschaft den Menschen?” Die auf uns zukommende Grundfrage des Amtes lautet heute bereits anders: „Wie stehe und bestehe ich in meiner Verkündigung vor Gott?” Am sichtbarsten aber wird diese Wendung in der Neuentdeckung des Sakraments und der Liturgie.

LeerWer eine russische Ostermesse miterlebt hat, hat die tiefe innere Beziehung dieser Wendung zur Kirche des Ostens unmittelbar gespürt. Die Beziehung reicht viel tiefer als das erwachende neue Verständnis der sakramentalen Welt der römischen Kirche, deren rationale Durchgestaltung und hierarchische Überformung immer ein westlich bestimmter Fremdkörper für uns bleibt. Die ganz hingegebene kindliche Anbetung und der wahrhaft jubelnde Lobpreis Gottes in den unbeschreiblich tiefen liturgischen Weisen des Ostens, die in die ältesten kirchlichen Schichten zurückführen, offenbaren uns das Wesen der kultisch-sakramentalen Kirche viel tiefer als die kalt geformte Kirchlichkeit des römischen Westens und Südens. So ist auch die wesentliche Meditation, die den rationalen Raum durchbricht, nur im Osten zuhause; der Westen kennt nur ihre rationale Verkünstelung und Technisierung, die heute besonders deutlich, trotz aller östlichen Beziehungen, in der Anthroposophie und in der Christengemeinschaft heraustritt.

LeerFreilich die Wendung zum „magischen Raum” ist nicht das Letzte. Auch die russische Kirche wartet auf die Erlösung von einer tiefen Gebundenheit an noch nicht gelöste Urmächte der ersten Schöpfung. Ihre Vergewaltigung durch die Oberfläche des Westens ruft auch sie zu einer neuen Geburt. Erst da, wo die furchtbar zerschneidende und zerstörende Stufe der rationalen Gesetzlichkeit durchlitten ist, kann jener andere Raum sichtbar werden, den uns Christi Auferstehungsmacht erschließt. Schon Dostojewski's Botschaft setzt diesen Todeskampf mit der rationalen Westwelt voraus. Unser Volk steht mitten in diesem Todeskampf drin. Noch ist der Michaelskampf gegen die Mächte menschlicher Empörung und der toten Gesetzesstarre das Schicksal unserer Kirche; die Front ihres Kampfes ist gen Westen gerichtet. Aber das Licht ihrer Hoffnung leuchtet vom Osten her, wo die dumpfe Sehnsucht der ersten Schöpfung, die noch von dem darüber gelagerten „Gesetz der Gottlosigkeit” in Banden gehalten wird, wartet auf das Licht des zweiten Schöpfungstages. Daß über dem Land der Mitte und über der östlichen Ferne die Sonne Christi aufgehe, ist die Hoffnung der geschichtlichen Stunde, in der wir stehen.

Das Gottesjahr 1933, S. 70-73
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-12
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