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Die betende Kirche
von Karl Bernhard Ritter

LeerJeder Blick in die Evangelien lehrt uns, daß das Leben unseres Heilands seine alles tragende und erleuchtende Mitte im Gebet hatte. Betend bereitet er sich für sein Werk in der Einsamkeit der Wüste. Betend besiegt er den Satan, der ihn versuchen will. Im Gebet empfängt er die Vollmacht zu den Wundertaten seiner Heilandsliebe und die Kraft zum Opfer am Kreuz. Der betende Jesus wird vor den Augen seines engsten Jüngerkreises verklärt: „Und da er betete, ward die Gestalt seines Angesichtes anders, und sein Kleid ward weiß und glänzte.” Aus seinen Jüngern macht er eine betende Schar. Er lehrt sie beten und stiftet seiner Kirche das Gebet im Vater-Unser. Das Letzte und Höchste, was der Evangelist Johannes über Christus zu sagen hat, teilt er uns mit in der Wiedergabe des Hohenpriesterlichen Gebetes.

LeerAus der Apostelgeschichte und den Briefen des Neuen Testamentes erfahren wir, daß die Gemeinden von ihrem Ursprung an Betgemeinden waren: Sie waren stets beieinander einmütig mit Beten und Flehen. „Betet ohne Unterlaß” mahnt der Apostel. Und im 1. Timotheusbrief heißt es: „So ermahne ich euch nun, daß man vor allen Dingen zuerst tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen.” Das Werk der Gemeinde ist vor allem anderen ihr priesterlicher Gebetsdienst, in dem sie für die ganze Menschheit vor Gott steht.

LeerEntspricht unsere evangelische Kirche diesem Urbild und Vorbild? Ist das Gebet ihr Lebensatem? Betet sie ohne Unterlaß? Steht sie allezeit fürbittend vor Gottes Thron? Sind unsere Gottesdienste Gebetsdienste? Streitet unsere Kirche mit der Waffe des Gebets gegen den Satan und die Dämonien der Finsternis? Kämpft sie so in der Tiefe ihren Christuskampf? Sind unsere Kirchen Bethäuser? Sind die Diener der Kirche die Vor-Beter ihrer Gemeinden? Ist das ihr wichtigster und vordringlichster Dienst, daß sie beten? Werden die künftigen Diener der Kirche vor allem zu Betern erzogen? Trägt und bindet die Kirche alle ihre leidenden, verfolgten, ihre suchenden und schwachen Glieder durch ihr Gebet, durch die Kraft priesterlicher Fürbitte? Erleben wir im evangelischen Gottesdienst die selige Freude, daß wir schon hier aus Erden mit der Schar aller Heiligen und Vollendeten vor Gottes Thron stehen und anbeten dürfen? Wachsen unsere Gemeindeglieder von Kind an in die Erfahrung hinein, daß Glied der Kirche sein vor allem heißt, an ihrem Gebet teilnehmen? Lernen unsere Gemeindeglieder, vorab aber ihre „Diener am Wort”, daß aller gesegnete Umgang mit dem Wort ein betender Umgang mit diesem Wort ist?

LeerD. Martin Luther fordert für die Gemeinde täglich am Morgen und Abend das öffentliche gemeinsame Gebet und die betende Betrachtung des Wortes: „Und ob solches täglichen Gottesdienstes vielleicht nicht die ganze Versammlung gewarten könnte, sollen doch die Priester und Schüler, und zuvor diejenigen, so man erhofft, gute Prediger und Seelsorger aus zu werden, solches tun.” Kommt die evangelische Kirche dieser Forderung ihres Reformators auch nur von ferne nach? So oft wir fragen, hören wir ein erschütterndes Nein. Hier wird die innerste Verderbnis sichtbar, die der Einbruch der Säkularisation in die evangelische Kirche mit sich brachte. Stehen wir nicht am Sterbebett der Kirche? Im ersten Kapitel des Johannes-Evangeliums spricht Jesus zu Nathanael: „Wahrlich, wahrlich ich sage euch, von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren auf des Menschen Sohn.” Wo Christus ist, da ist die Himmelsleiter, die der Erzvater Jakob im Traume schaute, Wirklichkeit geworden. Wo Christus ist, das heißt aber, wo seine Kirche ist. Gilt dieses Work der Verheißung noch für unsere evangelische Kirche? Ist sie sich überhaupt dessen noch bewußt, daß in dieser Verheißung das innerste Wesen der Kirche Christi ausgesprochen ist?

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LeerEin Künstler, der nachmals Theologe und Pfarrer geworden ist, erzählte mir einst, ihm sei zum ersten Male in seinem Leben eine Ahnung von dem Geheimnis des Gebetes aufgegangen, als er in Riga in einem Krankenhause darniederlag und sich mit seiner Pflegerin, einer katholischen Ordensschwester, unterhalten habe: „Ja, Schwester, was Sie tun, Kranke pflegen, Werke der Barmherzigkeit tun, das erscheint mir nützlich und sinnvoll. Aber welchen Sinn hat es, daß sich Nonnen ihr Leben lang hinter Klostermauern einschließen, ohne je Gelegenheit zu haben zu einer nützlichen Tat für ihre Mitmenschen?” Sa habe ihm die Schwester geantwortet: „Ob diese Nonnen nicht für uns alle etwas tun, das uns viel nötiger ist als die Hilfe, die wir den Kranken und Armen zuteil werden lassen? Diese Nonnen beten doch!”

LeerEin theologischer Lehrer gestand mir, er habe zum ersten Mal in seinem Leben einen erschütternden Eindruck von dem, was eigentlich Beten heiße, auf einer Wanderung durch Tirol empfangen. Da habe ihm sein Reisebegleiter gesagt, sie kämen jetzt durch das Dorf des „betenden Priesters”, eines Mannes, der so lebendig die Not und Ratlosigkeit der Zeit ans seinem Herzen trage, daß er in jedem Augenblick, den sein Amt ihm lasse, in Fürbitte versunken sei. Reisende berichten ans dem fernen Tibet, daß dort an den Abhängen des Himalaja in einsamen Höhlen heilige und weise Männer wohnen, die mit der gesammelten Kraft ihres Geistes Gutes für ihr Land denken, gute und heilsame Gedanken über das Land hinsenden. Ob nicht selbst in dieser Übung des Heidentums eine tiefere Einsieht und ein stärkeres Zutrauen zu der Macht des Geistes offenbar wird, als wir dem Diesseits-Glauben verfallenen „Christen” sie aufbringen?

LeerAus dem Seminar eines Ordens berichtet ein Dozent der evangelischen Theologie von dem unvergeßlichen Eindruck, wie dort jede Vorlesung mit einem in gesammeltem Schweigen vorbereiteten Gebet beginne. Er schließt seine Erzählung mit dem Satz: „Stellen Sie sich vor, wir wollten etwas Ähnliches in unseren Hörsälen versuchen! Ein unvollziehbarer Gedanke!” Wir Berneuchener erleben oft genug, daß man nur mit Kopfschütteln in protestantischen Kreisen die Mitteilung aufnimmt, daß bei unsern Freizeiten 3 oder 4 Gebetszeiten eingehalten werden: Aber ist das denn nicht katholisch?

LeerUnsere protestantischen Gotteshäuser sind die ganze Woche über geschlossen und öffnen sich nur am Sonntag für die Stunde des Predigtgottesdienstes. Wer darauf dringt, die Gotteshäuser für das Gebet der Gemeinde offen zu halten, wird leicht katholisierender Neigungen verdächtigt. So ist das Gebet fast ausschließlich zu einer Sache der einzelnen Seele, der individuellen Frömmigkeit geworden. Ja, man empfindet wohl gar diese Verflüchtigung des Gebetslebens in eine gestaltlose Sphäre der Innerlichkeit als einen Vorzug. Sprach nicht der Gemeindeälteste ein weitverbreitetes Urteil ans, der das liturgische Gebet als unterevangelisch bezeichnete? Wie nahe liegt dem Protestanten die Frage nach der seelischen Wirkung des Gebetes als der einzigen Wirkung, die er sich denken kann! Als ob wir im Gebet mit uns selbst beschäftigt wären und nicht gerade über uns hinaus geführt würden, Verbindung gewännen mit einer anderen, göttlichen Welt. Es zeigt sich an keinem anderen Punkte so greifbar, wie weit der Diesseits-Glaube im Protestantismus gesiegt hat: Religion ist eine Form des menschlichen Geistes- und Gemütslebens. Ein Leben in und mit der oberen Welt ist verschwunden.

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LeerWir müssen im Protestantismus wahrhaftig wieder ganz von vorn anfangen und die ersten Schritte lernen. Wir müssen lernen, daß wir in der Kirche nicht mit uns selbst beschäftigt sind. Wir Pfarrer müssen lernen, daß wir es im Gottesdienste nicht mit einer Veranstaltung für den Menschen zu tun haben, sondern daß der Sinn des „Gottesdienstes” eben der ist, Gott zu dienen, Gott zugewandt zu sein. Wir müssen lernen, daß unser persönliches Gebet aufgenommen, vertieft, gestärkt und getragen wird durch die Teilnahme am Gebet der Kirche. Die Erfahrung wartet auf uns, wie heilsam das Teilhaben am Gebetsleben der Kirche ist, das uns von allem Zufall, von aller Willkür, von dem Wechsel der Stimmungen und den Schwankungen unserer seelischen Bereitschaft und Fähigkeit zum Gebet befreit. Wir werden lernen müssen, daß im Gebet unser ganzer Mensch nach Leib, Seele und Geist vor Gott steht. Denn der Mensch ist nicht reiner Geist und ist nicht etwa in seiner geistigen oder seelischen Innerlichkeit bei Gott. Er bedarf dessen, daß er nach seinem ganzen Sein aufgenommen wird in die Gemeinschaft, die in Christus den Grund ihrer Rechtfertigung und die Kraft der Heiligung findet. Nur im Namen Christi, durch Ihn und seinen Geist haben wir Kraft und Vollmacht zum Gebet. Er selbst ist es, der in seiner Kirche uns beten macht. Wir können beten nur als Glieder an seinem Leibe. All unser Beten urständet in der Kirche.

LeerDie Teilnahme am Gebet der Kirche schenkt uns Anteil an dem Leben Christi in seiner Gemeinde. Das Gebet der Kirche führt uns im Kirchenjähr durch alle Stationen des Christus-Lebens hindurch. Darum kann nur ein beharrender Beter sich einfügen in das Gebet der Kirche, das eine große organische Einheit, ein gewachsenes Ganzes, eine sinnvolle, an unserm Leben bauende und bildende Ordnung ist. Da wir uns als Geschöpfe inmitten aller Kreatur demütig der Sinnfälligkeit auch unseres religiösen Lebens, auch unserer Andacht bewußt sind, werden wir dankbar sein, wenn uns die Kirche Raum, Zeichen und Worte schenkt, um unserem Beten zu Hilfe zu kommen. Wie mir einmal ein vielerfahrener und durch manche Prüfung gereifter Christ dankbar von Gebeten der Kirche sagte: „Die muß man laut beten und muß mit allen Sinnen dabei sein.”

LeerZwingen uns nicht die erschütternden Erfahrungen dieser Zeit zu der Erkenntnis, daß wir dem Kampf mit den Mächten des Abgrunds nicht gewachsen sind durch den Appell an den guten Willen des Menschen oder gar an seine Vernunft? Sind wir nicht hinein geworfen in den Kampf mit „Fürsten und Gewaltigen, mit den Herren der Welt, den bösen Geistern unter dem Himmel?” In diesem Kampf sind wir verloren ohne das Gebet der Kirche. Vielleicht, daß Zeiten der Verfolgung und des Martyriums, wie sie ein Teil der Christenheit heute im Osten des Erdteils erlebt, uns auch die Augen öffnen werden für das Geheimnis der Verbindung der kämpfenden Kirche mit der triumphierenden Kirche, für das Geheimnis, daß die Kirche hier auf Erden ganz und gar ohnmächtig ist, verloren unter dem Ansturm der Gegenmächte, wenn ihr nicht die „obere Schar” zu Hilfe kommt, die unsichtbar und doch wirksam gegenwärtig die auf Erden streitenden Glieder des einen Leibes der Kirche stärkt und ermutigt. Ja, die Kirche wird nur Kirche werden, wenn sie wieder eine betende Kirche wird. Sie wird nur in dem Maße in die Welt hinein wirken können, als sie, der Welt abgewandt, mit Christus die einsame Bergeshöhe aufsucht, wo sie betend erfahren soll, daß „die Engel Gottes herabsteigen auf des Menschen Sohn”. Die Kirche wird betende Kirche sein oder sie wird nicht sein.

Das Gottesjahr 1933, S. 34-37
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-12
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