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Gottesjahr 1933
von Wilhelm Stählin

LeerWährend der Kalendermann die Grußworte niederschreibt, die das „Gottesjahr 1933” eröffnen und das Band mit den Lesern aufs Neue knüpfen sollen, sitzt er an einem der einsamen und stillen Seen, hoch oben in den Bergen; ein wolkenloser Himmel spiegelt sich in der unbeschreiblichen Bläue des Wassers und grüne Matten und schroffe Felswände grenzen diesen Frieden ab gegen die Welt draußen. Wie weit liegt alles dahinten, Arbeit und tägliche Sorge, Wahlkampf und politische Aufgeregtheit! Es ist ein besonderes Geschenk, das ich demütig und dankbar empfinde, in solche Welt abgeschiedener Stille einkehren zu dürfen; nicht daß man hier vergessen möchte, was doch unsres Lebens Ort und Aufgabe ist; aber dazu können und sollen uns solche Stunden dienen, da die Seele trunken wird von der Schönheit der Hochgebirgswelt, daß uns aus der völligen Abgeschiedenheit die rechten Maßstäbe geschenkt werden, und daß aus der großen Stille die rechten Worte geboren werden.

LeerIch denke an Christian Morgensterns Wort von den stillen Dingen, nach denen zu fragen sei. Neben den aufregenden und aufreizenden Schlagzeilen der Zeitungen, neben den Massenversammlungen und neben dem Gleichschritt der Hunderttausende gehört es gewiß zu den sehr stillen und unscheinbaren Dingen, wenn ein einzelner, oder vielmehr ein Kreis von Freunden ein Jahrbuch ausgehen läßt, das dann zu ein paar hundert Menschen - und wären es selbst Tausende! aber es sind eben nicht ein paar Tausende! - sprechen darf, etliche berührend, etliche vielleicht bewegend, etliche, wenn es sein darf, ermutigend und stärkend. „Es ist gewiß nichts Großes, sondern ein sehr bescheidener Dienst, daß ein Kreis von Freunden Jahr um Jahr dies unser Jahrbuch gestaltet. Was an Hilfe und Segen daraus erwächst, sieht keines Menschen Auge, und wir dürfen nicht darnach fragen.” Müßten wir nicht Jahr um Jahr mit den gleichen Worten der Selbstbescheidung unsre Arbeit am Gottesjahr begleiten? Aber wir tun es von Jahr zu Jahr mit immer größerer Sicherheit und Freudigkeit.

LeerLaßt uns Mut fassen zu den stillen Dingen und darin die Treue bewähren! Es packt uns bisweilen ein Grauen darüber, wie herzlich unwichtig und bedeutungslos im Grunde die Dinge sind, von denen die Zeitungen erfüllt sind, und von denen das Geschrei aus allen Gassen ist; bedeutungslos für den innersten Gang der Geschichte. Was aus uns selber, und was aus unserem Volk wird, das hängt von ganz anderen Geschehnissen und Kräften ab, als von solchen „lauten” Dingen; darum laßt uns Mut fassen zu den stillen Dingen und darin die Treue bewähren!

LeerZu den stillen Dingen gehört alles, dem dieses Jahrbuch dienen möchte. Sein einziges und alles umfassendes Anliegen ist in seinem Namen ausgedrückt: daß wir unsre Jahre als Gottesjahre, als Jahre des Heils leben und erfüllen. Davon könnten wir mit ähnlichen Worten sprechen, wie es D. Martin Luther in der Auslegung der ersten drei Bitten des Vaterunsers getan hat: Unsre Jahre sind Jahre Gottes, weil alle unsre Zeit in Gottes Händen steht, und weil sie auf Christum zurückweisen, durften unsre Väter sie als Jahre des Heils zählen; aber wir bitten, daß diese Jahre auch an uns und für uns zu Gottesjahren, zu Jahren des Heils werden. Was könnten wir einander Anderes und Größeres wünschen als dieses Eine, daß mitten im Lärm der entfesselten Leidenschaften die geheimnisvollen Quellen aufbrechen, in denen Gott den Durst der Seelen stillt und von denen aus die Ströme des Heils einströmen in das dürre Land.

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LeerDas „Gottesjahr 1933” hat wie all seine Vorgänger ein bestimmtes Thema. Und zwar haben wir uns diesmal an ein Thema gewagt, das mit dem eigentlichen Anliegen des ganzen Jahrbuches und mit der Sache, der der Berneuchener Kreis dienen möchte, in einer sehr nahen und engen Weise verbunden ist. Es geht uns um die Kirche, um die Evangelische Kirche; es geht uns darum, daß unsre Evangelische Kirche ihren Beruf nicht versäume in dieser Weltenstunde, sondern sich in eben dieser Stunde als Kirche Jesu Christi bewähre.

LeerWelches ist diese Stunde? Ist nicht ihr innerster Sinn der mit einem unerhörten Ernst ausbrechende Kampf zwischen zwei grundverschiedenen Arten, das Leben zu begreifen und das Leben zu gestalten: die eine aus der reinen Diesseitigkeit und im Dienst innerweltlicher Zwecke und Aufgaben, die andre aus der Beziehung zu dem Ewigen und in der Verantwortung vor einer jenseitigen Bestimmung; in neuer Gestalt das uralte Thema der Weltgeschichte, der Kampf zwischen Glaube und Unglaube. Es steht aber nun keineswegs so, daß die „Weltlichkeit”, die Säkularisation, nur auf der Seite der gegen die Kirche streitenden „Gottlosigkeit” wäre; wie leicht wäre es dann der Kirche, in dem ganzen Bewußtsein ihrer Überlegenheit ihr großes Erbe zu wahren; wie klar wären die Fronten, und wie fröhlich könnte das Banner des Glaubens entfaltet werden!

LeerAber es ist ja nicht nur räumlich so, wenn wir als deutsche Christen mitten hinein gestellt sind in den Kampf der großen Weltmächte; sondern die Kirche, unsre Kirche ist ja wirklich und völlig in dieser Weif, tausendfach hinein verflochten in Gestalt und Wesen eben der Welt, gegen die sie kämpfen will und kämpfen soll. In zwei großen symbolischen Gestalten erhebt sich heute die Macht der Säkularisation in der Menschheitsgeschichte: im Bolschewismus einerseits, im Amerikanismus andrerseits. Und während ungezählte ernstmeinende Christen bei uns auf das ungeheuerliche Experiment des Bolschewismus starren, als eine wahrhaft dämonische Macht, die ihr echtes Antichristentum durch Kirchenzerstörungen und blutige Christenverfolgung erweist, scheint uns die christlich verbrämte Gestalt der Säkularisation der unvergleichlich gefährlichere Feind.

LeerIch weiß, daß wir vielen ernsten Christen in Amerika damit unrecht, vielleicht auch wehe tun, wenn wir diese scheinchristliche Verweltlichung als Amerikanismus kurz bezeichnen; aber sie hat dort ihre eindrücklichste Gestalt und ihre begeistertsten Propheten gefunden; und sie ist darum so gefährlich, weil sie scheinbar endlich das weltfremde Christentum auf die Erde heimholt und zum Dienst an der Wohlfahrt des Menschengeschlechts ruft, und weil sie die gewaltigen Kräfte des Christenglaubens einzubauen verspricht, gleichsam als Motor, in den so mühsam sich fortbewegenden Wagen der menschlichen Wohlfahrt, der menschheitlichen Einigung und des Friedens auf Erden.

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LeerDazwischen hinein sind wir gestellt. Wir haben uns manchmal, während wir diesen Band vorbereiteten, das Problem kurz so formuliert: Wittenberg liegt zwischen New York und Moskau. Und es ist die uns bewegende Frage und Sorge, ob unsre deutschen evangelischen Kirchen diese ihre ungeheure Weltenaufgabe verstehen und ergreifen, oder ob sie selbst von den Mächten der anderen Seite innerlich überwunden und zum Kampf untüchtig gemacht werden. Darum ist dieser ganze Band ein Kampfruf gegen die Verweltlichung der evangelischen Kirche. Ob unmittelbare Beispiele solcher Verweltlichung zusammengetragen werden, ob von den Gefahren kirchlicher Betriebsamkeit und des kirchlichen Parlamentarismus geredet wird, oder ob positiv von der Una Sancta oder von der leidenden Kirche, von der Botschaft der Erlösung statt von Weltverbesserung, von der Bedeutung der Stille geredet wird, oder ob endlich das Zeitgeschehen aus den Bildern der Apokalypse gedeutet wird: alle Aufsätze haben ihren Einheitspunkt in der einen Sorge um die verweltlichte Kirche und in dem Glauben daran, daß einer wahrhaft evangelischen Kirche von heute eine unermeßliche Aufgabe und Verantwortung in dieser unsrer Stunde gegeben wäre.

LeerWir sorgen uns um die Kirche: um ihr in der Welt sein, ihr gegen die Welt sein und ihr für die Welt sein; das heißt um ihre solidarische Verflochtenheit in das Gesamtschicksal der Zeit, um ihr notwendiges Anderssein, ihr Geschiedensein und ihren Angriff auf die Welt, wie sie ist, letztlich um den priesterlichen Dienst, den sie dem Ganzen der Welt schuldig ist. Aber indem wir uns sorgen um die Kirche, sorgen wir uns zugleich um die Welt selber, um unser Leben in allen seinen persönlichen und öffentlichen Beziehungen. Denn die Welt bedarf der Kirche, und wenn es der Welt - sei es auch in der Gestalt des Nationalismus - gelingt, die Kirche zu unterwerfen, so zerstört sie zugleich die Kraft, aus der allein sie gerettet und geheilt werden kann.

LeerDavon also handelt unser „Gottesjahr 1933”, und wir meinen, es ist ohne viel Worte deutlich, daß wir damit eine ganz gegenwartsnahe Frage und Aufgabe anschneiden, die Frage, die von allen Seiten her uns bedrängt, klagend und anklagend und hoffend: die Frage nach der wahren Kirche, in der wir Menschen unsrer Tage unsre Heimat haben können und als deren Glieder wir in den Kampf ziehen können gegen die Macht des Verderbens. Die Kirche - es ist ja ein alt vertrautes Bild - wie ein solcher stiller Bergsee, mit unbestechlicher Klarheit, in der sich Gottes herrliche Sonne spiegelt, fern von Niederung und Städten und doch ihnen so nahe verbunden, daß man eben von hier aus Mut fassen kann „mit Geduld zu laufen in dein Kampf, der uns verordnet ist.” Ob es eine solche Kirche gibt, ist wahrlich eine Frage, die nicht nur die Pfarrer oder gar nur die Kirchenleitungen angeht, sondern allen denen auf die Seele gelegt ist, die unsre Stunde wach miterleben. Es geht um Kirche und Welt; es geht um den Kampf gegen die Welt in der Kirche, damit in der Welt um ihres Heils und ihrer Rettung willen eine Kirche da sei.

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LeerAuch in diesem Jahr muß einiges zum Monatswerk gesagt werden. Die Freunde des Gottesjahres wissen, wie sehr uns von Anfang an die Gestaltung des Kirchenjahres und der rechte Sinn der einzelnen Sonntage am Herzen liegt, und haben unsre Arbeit daran in ihren mannigfachen Wandlungen durch die Jahre hindurch verfolgen können. Diese Arbeit ist jetzt zu einem gewissen Abschluß gelangt. Im Frühjahr 1932 sind die längst geplanten Besprechungen zwischen uns Berneuchenern und den Vertretern der Niedersächsischen Liturgischen Konferenz endlich zustande gekommen, und das sehr erfreuliche Ergebnis dieser mehrtägigen Besprechung ist ein gründlich durchgearbeiteter Entwurf für die Ordnung des Kirchenjahrs; dieser Entwurf wird noch im Herbst dieses Jahres (1932) mit ausführlicher Begründung als Denkschrift im Bärenreiter-Verlag erscheinen, und ich muß die Leser des Gottesjahres auf diese Schrift verweisen.

LeerDie Einteilung des Kirchenjahres, die Benennung der einzelnen Sonntage und die Wahl der Wochensprüche ist schon in dem vorliegenden Band nach dem Ergebnis jener Besprechungen gestaltet; aufmerksame Leser werden leicht entdecken, an welchen Stellen und in welchem Sinn unsre bisherige Form verändert ist; alle wesentlichen Gesichtspunkte konnten beibehalten werden, nur sind vor allem die Namen der Sonntage noch bildhafter und der Anschluß an die alt vertrauten Sonntagsevangelien, wo es sein kann, noch enger und deutlicher geworden.

LeerÜber unsre Wochensprüche und ihre Bestimmung braucht wohl nichts Neues gesagt zu werden; sie sind nochmals gründlich durchgeprüft worden unter dem Gesichtspunkt, daß sie sich als Meditationsworte wirklich eignen, und sie warten nur auf Menschen, die sich die Mühe nehmen und die Treue haben, an der Hand dieser Gedenkworte regelmäßig sich in einer besinnlichen Betrachtung der biblischen Wahrheit zu üben. (1) Wir möchten glauben und hoffen, daß diese ganze Seite unsres Monatswerkes, Kirchenjahreseinteilung, Sonntagsnamen und Wochensprüche nun bald ihre endgültige Gestalt gefunden haben werden.

LeerDagegen ist die Arbeit an den täglichen Gedenktagen neu in Fluß gekommen. Das Problem eines evangelischen Kalenders ist trotz aller älteren und neueren Vorarbeiten noch keineswegs gelöst, ja es tauchen für jeden, der sich an die Arbeit macht, eine Reihe ganz grundsätzlicher Fragen auf. Wir haben im vorigen Jahr eine große Anzahl von Namen ausgeschieden, um unseren Kalender deutlich als einen christlichen, und zwar evangelischen „Heiligen”-Kalender abzuheben von all den Hilfsmitteln, in denen beliebig viele Erinnerungen zusammengetragen werden. Dieser, wie uns scheint, notwendige Prozeß der „Verchristlichung” des Kalenders ist in diesem Jahr mit innerer Notwendigkeit weiter gegangen. Unser Freund Pfarrer Dr. theol. Walter Stökl hat eine große Mühe auf die Umgestaltung unseres Namenkalenders verwendet, und das Monatswerk ist in dieser Hinsicht jetzt wesentlich sein Werk.

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LeerDabei sind folgende Gesichtspunkte maßgebend gewesen: Doppelnennungen sind jetzt fast durchweg beseitigt; so weit möglich, sind die Namen an dem Todestag des betreffenden Mannes verzeichnet, doch war es aus äußeren Gründen nicht möglich, diesen Grundsatz ganz konsequent durchzuführen. Namen noch lebender Persönlichkeiten sind durchweg gestrichen; erst wenn ein irdisches Lebenswerk abgeschlossen ist, kann die Frage gestellt werden, ob es eines dauernden Gedenkens in der evangelischen Christenheit würdig ist. Über die Namen spezifisch kirchengeschichtlicher Bedeutung hinaus sind einige wenige Gedenktage allgemein geschichtlicher Art mit aufgenommen; es bedarf keiner besonderen Begründung, warum zum Beispiel Versailles und Scapa Flow mit aufgenommen sind, als geschichtliche Symbole von religiöser Hintergründigkeit.

LeerSo weit irgend möglich wurden Fehler, die sich von früher her im Kalendarium befanden, ausgemerzt und berichtigt. Trotz aller darauf gewendeten Mühe sind wir keineswegs der Meinung, daß diese Arbeit schon völlig ausgereift und keiner weiteren Verbesserung mehr bedürftig sei. Mancher Name steht nur deswegen im Kalender, weil uns für den betreffenden Tag kein würdigerer Ersatz bekannt war, und mancher Name, der für die Geschichte des christlichen Glaubens, wenn auch nur auf begrenztem Gebiet, seine hervorragende Bedeutung hat, mag noch fehlen. Sehr wichtig wäre uns die Mitarbeit einiger Freunde, die sich verpflichtet fühlen, die Tagesnamen regelmäßig zu beachten und uns ihre Erfahrungen dabei, auch ihre begründeten Gegenvorschläge mitzuteilen. Es entspricht dem Wesen der Aufgabe, die uns im Gottesjahr gestellt ist, daß das, was als fernes Ziel vor unserer Seele steht, nur im Lauf der Jahre und durch treue Mitarbeit Vieler allmählich gestaltet werden kann.

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LeerGott schenke uns allen die Treue auf dem Wege, die Treue auch in den kleinen und stillen Dingen, abseits von dem Lärm und Streit des Tages; damit, wie wir es im Kirchenban allmählich gelernt haben, jedes Stück Holz und jeder Nagel und jedes Tuch und was es sonst sei, mit Liebe und frommem Sinn gestaltet und Kirche, die Kirche, deren die Welt bedarf, dadurch gebaut werde.

Anm. 1: Immer wieder muß darauf hingewiesen werden, welche unschätzbare Hilfe dabei die von unserem Kreis herausgegebene Bibellese bedeuten kann, deren tägliche Morgen- und Abendlesungen in engstem Zusammenhang mit dem Wochenspruch stehen. Die Bibellese ist in den Jahresbriefen des Berneuchener Kreises (Bärenreiter-Verlag) enthalten und kann als Sonderdruck von 10 Exemplaren ab vom Bärenreiter-Verlag, in geringerer Zahl von der Geschäftsstelle des Berneuchener Kreises, Münster/W. Paulstr. 15), bezogen werden.

Das Gottesjahr 1933, S. 17-22
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-12
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