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Das Gift in der Natur
von Carl Happich

LeerMit dem Worte Gift verbinden wir immer irgendwie den Begriff des Furchtbaren, des Dämonischen, jedenfalls des Widernatürlichen und oft des Teuflischen.

LeerSehr oft überfällt ein Gift den Menschen in seiner Ahnungslosigkeit, weil er nicht durch seine Sinne die kommende Schädlichkeit wahrnehmen kann; viel mehr kann dies das Tier, das der Natur so viel näher steht als der Mensch. Kein Rind auf der Alm frißt den giftigen Eisenhut. Häufiger treten Giftwirkungen auf, wenn der Mensch sich in den Ablauf des Naturgeschehens einmengt. Erschreckend ist die Zunahme der Gifte und ihrer Wirkungen infolge der vermehrten Industrie. Ein Beispiel: Amerika produzierte 1913 3.000.000 Gallonen Benzol und 1922 schon 70.000.000. Ungeheure Mengen von Giftstoffen gehen von den Fabrikschornsteinen in die Luft und können bei widrigen Witterungsumständen auf die Menschheit wirken, wie vor kurzem die durch die Ausdünstungen der Zinkhütten giftigen Maasnebel. Mit Grauen erinnern wir uns an den tausendfachen Tod, den die Menschheit durch die Verbreitung von Gasen in dem letzten großen Weltkrieg hervorrief und den sie in zukünftigen Kriegen in entsetzenerregender Weise noch zu vermehren entschlossen ist. Solche Gifte und solche Taten sind wahrhaft dämonisch und teuflisch.

LeerAber ebenso ungesehen und unbemerkt beschleicht der giftige Tod den Menschen auch im gewöhnlichen Leben. Zahlreiche Lebensmittel können durch Bakterien so verändert werden, daß sie, ohne daß ein äußeres Kennzeichen es verrät, schnellen Tod in sich führen, wie z. B. das Wurstgift.

LeerBei all diesen eben angedeuteten Vergiftungen hat der Mensch seine Hand mit im Spiel, weil er sich von der Natur entfernt hat und bequemer, intensiver und schneller leben will. Aber nicht davon wollten wir sprechen, wie sehr durch die Hand des Menschen die Natur entfesselt wird und sich rächt mit immer größerer Bedrohung, sondern wir wollten sprechen von den Giften, wie sie sich in der Natur ohne Zutun des Menschen vorfinden.

LeerWir nehmen von den Giften an, daß sie ein Schädliches, ein Zerstörendes und Lebensfeindliches seien; aber das ist gar nicht ohne weiteres der Fall. Meist kommt es, um ein Beispiel zu sagen, auf die Menge des zugeführten Stoffes an; es kann sehr wohl sein, daß eine kleinere Menge eines gewissen Stoffes nützlich und heilbringend wirkt und erst die größere Menge schädlich. Unendlichen Segen verdanken wir in der Medizin den Wirkungen des „giftigen” Fingerhutes, der Tollkirsche, des Stechapfels; die ganze Entsetzlichkeit des letzten Weltkrieges wäre noch mehr ein Freudentanz teuflischer Gewalten gewesen, hätten wir nicht gelernt aus dem giftigen Mohn das schmerzstillende Morphium und alle die ihm verwandten Stoffe zu ziehen. Heute suchen wir in den fernsten Ländern nach heilbringenden Pflanzen, die im Übermaß genommen giftig und zerstörend wirken, in weiser Auswahl aber helfend und heilend.

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LeerWir alle kennen die Möglichkeit, heute schmerzlos an einem Menschen Operationen vorzunehmen; durch Einspritzungen mit Kokain können wir die Haut unempfindlich machen; und auf der anderen Seite wissen wir, zu welchem Laster und zu welcher Zerstörung des Leibes und der Seele Kokain-Mißbrauch führt. In der Heimat der amerikanischen Koka-Pflanze wird das Blatt gekaut, um eine Anregung der Arbeitskraft hervorzurufen. Seitdem aber die Chemie gelernt hat, mit ihren Künsten das wirksame Prinzip der Koka-Pflanze chemisch rein herzustellen, haben wir zwar eine unendliche Wohltat für die Menschheit, aber auch eine neue Geißel für sie lebendig gemacht. Die giftige Herbstzeitlose schenkt uns im Colchizin ein Heilmittel gegen die Gicht und der blaue Eisenhut enthält das seit alters berühmte Akonitin; Nikotin aus der Tabakspflanze und Koffein aus den Bohnen des Kaffeebaumes sind uns bekannte Anregungsmittel, ohne die ein großer Teil der Menschheit sich heute nicht mehr wohlfühlen will, und doch sind es starke Gifte. In den schwarzen Pilzfäden des Mutterkorns findet sich ein Saft, der unbeachtet mit dem Getreide genossen, die schreckliche Kriebelkrankheit und den „krummen Tod” bringt, der aber in der Hand des Arztes vielen Frauen eine gesegnete Hilfe war.

LeerVieles, was der Mensch Gift nennt, hat der Herr seinen Geschöpfen zum Schutze verliehen. Kein Tier würde sich an dem farbenprächtigen Fliegenpilz vergreifen, keines an dem Bovist, keines an dem giftigen grünlichen Champignon; nur der Mensch, aus dem Paradies vertrieben, weiß nicht mehr, was ihm dient und sieht nicht mehr, was ihn warnt.

LeerDie Giftschlangen brauchen ihren tödlichen Saft, um Nahrung zu erjagen, wie der Adler seine Fänge und der Löwe sein Gebiß. Uns scheint es tückischer zu sein, aber vielleicht leidet das Opfer des Adlers und des Löwen grausamere Qualen als die Beute der Kobra und dabei warnt die Brillenschlange schon durch ihr Aussehen und die Klapperschlange von weitem durch ihr Geräusch.

LeerViele Tiere haben Schutzstoffe in ihrem Blut, damit sie nicht von anderen gefressen werden; so ist das Aalblut giftig für den Genuß, ebenso der Körper der Kröte. Andererseits hat die Forschung tierische Giftsäfte zur Heilung von Krankheiten benutzt: das Klapperschlangengift z. B. zur Behandlung der Epilepsie und gegen Tetanus.

LeerWohin wir sehen, befinden sich in der Natur Stoffe, die falsch angewendet giftig wirken, die weise verwendet heilen können. Überall aber sehen wir, daß das Witterungsvermögen und der Instinkt der Tiere sich nicht an schädlichen Stoffen vergreift. Nur der Mensch, der sich die Herrschaft über die Natur anmaßen will, wird verblendet und entfesselt Kräfte, die dämonisch wirken können und dem Menschen Tod bringen oder ihm Körper und Seele zerstören können.

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LeerWir wissen, daß der gesegnete Saft der Traube von den alten Dichtern „Sorgenbrecher” genannt wurde; wir wissen, wie der Wein in heiligen Gebräuchen als edelstes Getränk dargereicht wurde, und wieder wissen wir, wie der verblendete und süchtige Mensch sich selbst einen Teufel schafft, der in Gestalt jedes Alkohols ihn herunterziehen kann auf eine Stufe, niedriger als die des Tieres.

LeerSo sehen wir auch bei dem, was wir Gift nennen, in der Natur Ordnung; nur der Mensch mit seiner Sucht verwirrt und zerstört. Hat er aber gelernt sich selbst zu beherrschen, dann auch kann er die Mächte der Natur bändigen und Wunderbares vollbringen.

LeerWenn wir von Gift sprechen, so beziehen wir die Wirkungen von Stoffen, Pflanzen und Tieren auf uns selbst, auf den Menschen, als ob alles nur geschaffen sei, damit der Mensch seinen Vorteil herausziehe. Nicht ist der Mensch das Maß aller Dinge, wie die Weisheit Chinas glaubt, sondern allein der Wille Gottes.

LeerJe mehr der Mensch „will”, je mehr er aus der Einheit der Natur einzelne Kräfte herauszureißen, abzuspalten sucht, umso verwirrter, umso instinktloser wird er. Unsere Technik hat uns ja die Herrschaft über die Natur gebracht, wie wir sagen, aber welche Kompliziertheit! Nur 5 Menschen sollen heute imstande sein die technischen Anlagen New Yorks zu überblicken. Je mehr Herrschaft über die einzelnen Naturkräfte, umso weitere Entfernung von der Einheit mit der Natur, vom „Paradies”!

LeerDas Schöpferische im Menschen geht so oft nur durch Zerstörung, durch Isolierung; das ist unsere Tragik.

LeerGott schuf uns „nach seinem Bilde”, nicht als Götter.

Das Gottesjahr 1932, S. 83-86
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-27
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