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Natur
von Wilhelm Stählin

LeerDas „Gottesjahr 1932” handelt von der Natur. Ähnlich wie im Vorjahr, als wir uns mit der Bibel beschäftigten, hat uns eine ganz bestimmte Not dazu gedrängt, einen Band unseres Jahrbuchs unter dieses Thema zu stellen. Wir kommen so schwer zum richtigen Denken über die Natur und können uns so schwer in ein richtiges Verhältnis zu ihr stellen. Es gibt viele fromme Christenmenschen, die meinen, mit der Natur habe der Glaube nichts zu schaffen. Sie achten und schätzen in der Religion, auch in ihrem Christentum, das Reich der Innerlichkeit, der „Seele”, und meinen, daß Gott es ausschließlich mit dieser Innenwelt menschlichen Geistes zu tun habe. Ja sie achten die Welt der Religion um deswillen, weil sie ein Gegengewicht bildet gegen das Schwergewicht äußeren Geschehens in der Natur um uns her.

LeerDiese Denkweise ist in doppeltem Sinn gefährlich. Auf der einen Seite wird damit das Leben der frommen Seele etwas in sich Verschlossenes. Es haftet ihm etwas Blasses und Unwirkliches an und in der harten Welt irdischen Geschehens bleibt diese Religion der Innerlichkeit etwas Bedeutungsloses und Unkräftiges. Auf der anderen Seite wird in dieser Denkweise die ganze Welt der Natur von ihrem göttlichen Hintergrund abgelöst. Nichts wird in ihr gesehen als die erbarmungslose Stofflichkeit und nichts regiert in ihr als das kalte und starre Gesetz. Dieser Natur gegenüber weiß und wagt der Glaube nichts zu sagen. Sie mag schön, herrlich, gewaltig sein, aber ihre Majestät ist doch im Grunde die des toten Steines und des Eises, in dem alles Leben erfroren ist. Schon das Leben des eigenen Körpers ist dann eine unverstandene Außenwelt und der Rückzug auf die Innenwelt des Glaubens ist eine Flucht vor der sinnlosen Wirklichkeit.

LeerEs wird in der Sache nichts gebessert, sondern vielmehr verdorben, wenn wir statt dessen uns einer sentimentalen Naturschwärmerei hingeben. In drei Formen begegnet uns diese schwärmerisch unwahre Naturbetrachtung. Für viele Menschen ist die „Natur” vor allem der Ort, an dem man Stimmungen erlebt und sich dem Zauber solcher Stimmungen genießerisch hingibt. Die verständigsten Leute können in Weichheit und Rührung verfallen, wenn sie in der Wirklichkeit, aber vielleicht noch besser in Bildern rosarote Abendwölkchen oder ein Reh auf der Waldwiese oder das friedliche Dorf im Wiesental betrachten. Ach nein, sie betrachten ja gar nicht solche Erscheinungen der Natur, sondern sie betrachten bau Gefühl, das „man” angesichts einer so stimmungsvollen Szenerie hat oder zu haben meint. Was dieser sentimentalen und gefühlsseligen Naturbetrachtung (aber die Natur wird ja gar nicht betrachtet!) gänzlich fehlt, ist der Eindruck von dem überwältigenden Ernst, der strengen Größe und herben Unzulänglichkeit der wirklichen Natur.

LeerHier ist die Natur nur ein Genußmittel, und die seelische Genußsucht holt sich das „Schöne”, „Liebliche”, „Romantische” heraus, an dem sie sich berauschen kann. Die Unwahrheit dieser Naturbetrachtung wird dadurch nicht gemindert, wenn sie sich in einem religiösen Gewand verbirgt. Als ich einmal in einem Vortrag in ähnlichem Sinn, wie es in diesem Jahrbuch geschieht, von den in der Natur auch vorhandenen Symbolen des Dämonischen gesprochen hatte, beklagte sich hernach einer meiner Hörer aufs bitterste, daß ich die Schönheit und Lieblichkeit der Natur so undankbar verkannt hätte; an einem Frühlingstag unter blühenden Obstbäumen könnten wir doch überwältigt werden von der Schönheit der Welt und von der überfließenden Gütigkeit Gottes. Ich fragte den Mann, ob er jemals einen von Raupen völlig kahlgefressenen Obstbaum gesehen habe. Die Erwähnung der Raupen warf sein ganzes romantisches Naturbild über den Haufen. Ja die Raupen! Daran habe er noch nicht gedacht.

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LeerVielleicht ist unter uns auch noch nicht gänzlich ausgestorben jene biedere Stimmung, die die Aufklärung gezüchtet hat, die sich und anderen zur Erbauung in der Natur die ungezählten Exempel einer über die Maßen weisen Weltregierung aufspürte. Sie war überzeugt, von vornherein überzeugt von der unübertrefflichen Zweckmäßigkeit aller Einrichtungen in der Natur und redete nicht anders, als hätte sie dem Weltenschöpfer über die Schulter geguckt, als er die Pläne zu diesem Weltengebäude entwarf. Aber unversehens waren es die Lebensbedürfnisse des Menschen, denen alles in weiser Ordnung dienen muß, und im Grunde dankte der Mensch in dem erhabenen Gefühl seiner Vernunft dafür, daß er die Krone dieser besten aller Welten sein durfte. Dieser Betrachtung, die die Natur am liebsten unter dem Bilde eines wohlgeordneten Haushalts oder eines vortrefflich regierten Staatswesens steht, mangelt es zwiefach am Wirklichkeitssinn. Sie steht nicht die unerhörte Grausamkeit, die durch die ganze Natur geht, den brutalen Vernichtungswillen, die Selbstverständlichkeit, mit der Millionen und aber Millionen von lebenden Wesen sinnlos vernichtet werden, sie sieht nicht die furchtbare Selbstzerstörung der Natur, sie sieht nur das, woraus sie eine Bestätigung ihres eigenen naiven Optimismus zieht.

LeerWahrhaftig, hier ist viel, sehr viel mit staunender Ehrfurcht zu sehen; aber wer nur das sieht, hat das wahre Gesicht der Natur noch nicht gesehen. - und diese Befrachtung weiß ebensowenig, daß die Natur keineswegs nur den Lebensbedürfnissen des Menschen zweckmäßig und willfährig zu Diensten steht, sondern daß sie mit brutaler Gleichgültigkeit den Menschen und sein Werk zerstampft. Ganz naiv hat der Mensch sich zum Maß aller Dinge gemacht und hofft, die Restbestände ungebändigter Natur bis hin zu Ebbe und Flut, bis hin zu den Wassern des Hochgebirges und zu den Kräften der Sonne noch vollends seinen Zwecken zu unterwerfen. Er sieht nicht und will nicht sehen, daß ihm in der Natur zugleich die Grenze seiner Macht gesetzt ist, eine brutale Urgegebenheit, die nach ihm, seinen Freuden und Leiden, seinem Lebenshunger und seiner Todesangst nicht fragt.

LeerEine dritte Form der Schwärmerei haben wir vielleicht als Jugend zum erstenmal gierig in uns eingesogen, als wir Schillers „Spaziergang” auf einsamen Gängen deklamierten.
„O so öffnet euch, Mauern, und gebt den Gefangenen ledig,
Zu der verlassenen Flur kehr' er gerettet zurück!”
LeerAndere unter uns hat später die gleiche Sehnsucht nach der mütterlich-heilenden Natur in der Zeit der Jugendbewegung ergriffen. Hier war die Natur die große wundersame Welt unverbrüchlicher Ordnung und ursprünglichen Lebens. Ahnend empfand die von eigenem Kampf zerrissene Seele, was Kierkegaard in seinen Beichtreden über das Geheimnis der Natur enthüllt: ihre Schönheit ist ihr Gehorsam. Sie ist ganz, was sie sein muß, kein Eigenwille und kein Dünkel stört ihre heilige Notwendigkeit, und nichts Größeres ersehnt der Mensch, als daß er gänzlich eintauchen darf in dieses naturhafte Leben, selbst blühen, wachsen und reifen wie Pflanze, Baum und Frucht.

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LeerHier ist ein Geheimnis, ein echtes Geheimnis, das uns in der Natur aufs tiefste ergreift, gesehen und doch falsch gesehen. Denn der Mensch ist nicht Natur und es ist ein eitler Traum, er könne heimkehren in den Frieden und die Unschuld der Natur. Wir sind aus dem Paradies naturhaften Seins vertrieben und der Cherub mit dem flammenden Schwert versperrt uns den Rückweg in das verlorene Paradies. Unser Teil ist Zwiespalt und Kampf. Der Ruf zur Freiheit reißt eine unübersteigliche Kluft auf zwischen uns und der Natur; und selbst unser Gehorsam ist ein anderer als der Gehorsam des naturhaften Lebens. Und über all dem, ist nicht doch zuletzt auch die Natur selber hier falsch gesehen? Falsch, weil durch sie selbst der unheimliche Riß der Zerstörung hindurchgeht. Selbst wenn der Mensch in seiner Qual sein tiefes Anders-Sein, seine schmerzliche Geschiedenheit von der Natur erkennt, ist die Welt wirklich vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual?

LeerDas untrügliche Kennzeichen für die Unwirklichkeit aller solchen schwärmerischen Naturbetrachtung ist es, daß auf ihrem Boden gar nicht mehr verstanden werden kann, was die Bibel von der Natur sagt. Sie singt wohl auch, wie in dem herrlichen 104. Psalm, das Lob Gottes aus der Schönheit, Lieblichkeit und Lebensfülle der Natur, aus den Urgeheimnissen des Lichtes, aus Blitz und Donner und aus den gar nicht zweckmäßigen, sondern nur unheimlichen Ungetümen und Ungeheuern der Meerestiefe. Aber niemals verdeckt sie den Riß, der durch die Natur hindurchgeht, und sie sieht, das ist ihr letztes - oder doch ihr vorletztes? - Wort über die Natur, daß auch die Natur eine gefallene Natur ist. Sie hört das Seufzen der Kreatur, die sich mit uns Menschen einer künftigen Erlösung entgegensehnt. Niemals könnte die Bibel beten „um Erlösung von Natur”; denn sie verkündet ja vielmehr das Evangelium einer Hoffnung, die - das erst ist wirklich ihr letztes Wort - auch die Erlösung der Natur einschließt. Es muß an anderem Ort davon geredet werden, wie diese Naturbetrachtung sich in den biblischen Wunderberichten spiegelt. Wie weit entfernen wir uns von aller plump materialistischen Naturbetrachtung, aber auch von aller unwahren und sentimentalen Verfälschung der Naturwirklichkeit, wenn wir die biblische Botschaft vernehmen, daß alles, alles! durch Christus geschaffen ist, alles Christus unterworfen ist und daß Christus der Herr auch der Naturmächte ist und in erfülltem Sinn sein wird.

LeerDer Kampf um das Recht dieser biblischen Naturbetrachtung ist freilich lange Zeit auf einem unrichtigen Boden geführt worden. Wir Älteren entsinnen uns aus unserer Jugend der Versuche, gegen die Tyrannei einer jeden Glauben bedrohenden Naturwissenschaft die Bibel in einer Art christlicher Naturwissenschaft zu verteidigen. Man stritt heftig um „Entwicklung” und Weltentstehungstheorien. Man versuchte zum Beispiel durch Umdeutung der biblischen Schöpfungsgeschichte zu erweisen, daß die dort vorgetragene Anschauung über die Entstehung der Weltkörper und des irdischen Lebens keineswegs durch die moderne Naturwissenschaft widerlegt werden könne. Oder die Apologetik begab sich selbst auf das Gebiet der Naturforschung und versuchte auf deren eigenem Feld eine mit dem christlichen Glauben besser verträgliche Betrachtungsweise wissenschaftlich zu begründen.

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LeerWir wollen das Verdienst der Männer, die an solche Versuche ihre Lebensarbeit gewendet haben, nicht schmälern; sie haben vielleicht in einer bestimmten geschichtlichen Stunde, in einer bestimmten geistigen Lage manchen in dem Konflikt zwischen naturwissenschaftlichem Denken und christlichem Glauben einen Dienst geleistet. Freilich, heute sehen wir klarer, daß damit vielleicht eine übergriffige Naturwissenschaft in ihre Schranken gewiesen, die Selbstsicherheit unerwiesener Theorien zur Vorsicht gemahnt worden ist, daß aber gerade eine gläubige Naturbetrachtung damit noch keineswegs erweckt wird. Denn diese kommt eben nicht aus wissenschaftlicher Diskussion, sondern allein aus dem Glauben. Sie wacht da auf, wo sich nicht mehr die Natur und das naturwissenschaftliche Denken des Gottesglaubens bemächtigt, sondern wo der Glaube sich der Natur bemächtigt, das heißt ganz entschlossen in den Glauben an Gott als den Schöpfer Himmels  u n d  d e r  E r d e  einbezieht. Von hier aus werden diese apologetischen Anstrengungen einer populären christlichen Naturbetrachtung höchst belanglos; sie sind da wirklich gleichgültig, wo ein anderer, der entscheidende Weg gläubiger Naturbetrachtung ernsthaft beschritten wird.

LeerDas Wesentliche, was die Bibel und mit ihr der christliche Glaube schlechthin über die Natur zu sagen hat, trägt die Form des Gleichnisses. Für den Glauben wird die Natur zum Gleichnis, und nur in der Form des Gleichnisses kann von dein Geheimnis der Natur geredet werden, um das der Glaube weiß. Man muß freilich auch das Wort „Gleichnis” und dieses erst recht vor Mißverständnissen schützen. Die Gewohnheit des rationalen Denkens hat uns auch das Gleichnis seines eigentlichen Sinngehaltes entleert und hat daraus entweder einen rein begrifflichen Akt der Vergleichung oder aber das zufällige Spiel rhetorischer Schmuckformen gemacht. Ich darf ein paar Sätze hier wiederholen, die ich in meinem Büchlein über den Sinn des Leibes geschrieben habe. „Die Vergleichung ist ein Akt des menschlichen Denkens, in dem zwei an sich verschiedenartige Erscheinungen um gewisser Ähnlichkeiten willen zu einander in Beziehung gesetzt werden; eine solche gedankliche Vergleichung ermöglicht den Vergleich als eine beliebte rhetorische Figur, die das Eine, Fremde und Unanschauliche, schwer zu Sagende und kaum zu Beschreibende durch das Naheliegende, Vertraute, sinnlich Gegenwärtige dem Verständnis, ebenso der Anschauung wie dem Gefühl näherbringt.”

LeerDie ganze religiöse Sprache ist voll solcher bildlicher Redeweise; und umgekehrt ist die Natur eine unerschöpfliche Fundgrube verdeutlichender oder schmückender Bilder für die Bereiche des geistlichen, sittlichen oder religiösen Lebens. „Mit Gleichnis aber meinen wir etwas anderes und sehr viel Wichtigeres. Wir bezeichnen mit Gleichnis ein Stück der sinnlich-irdischen Erfahrungswelt, sofern darin ein Jenseitiges und Göttliches „erscheint”. Das, was vor Augen ist, sinnlich, sichtbar, hörbar, greifbar, gewinnt einen Bedeutungsgehalt, einen „Sinn” jenseits dieser seiner „sinnlichen” Erscheinung; es weist über sich selbst hinaus, aber nicht auf irgend ein anderes Element sinnlicher Erscheinung, sondern auf das, was jenseits aller irdischen Wirklichkeit ist; es wird zum Gefäß und Träger eines unbedingten und umfassenden Lebenssinns; es wird zum Ort, wo ein Jenseitiges und Ewiges sich offenbaren und Gestalt gewinnen will.”

LeerGewiß finden sich unter den Gleichnissen des Neuen Testaments auch bloße Bilderreden, reine Vergleichungen, die mit einer gewissen Willkür gewählt sind und auch durch andere Beispiele oder Vergleichungen ersetzt werden können. Aber damit wird das entscheidende Anliegen des biblischen Gleichnisses nicht getroffen. Hier handelt es sich vielmehr darum, daß ganz bestimmte Elemente der irdischen Wirklichkeit durchscheinend werden für das Geheimnis des Gottesreiches. Sie sind nicht willkürlich herzugetragen, sondern sie sind selbst in einer geheimnisvollen und jeder Willkür entrückten Ordnung dazu bestimmt und berufen, daß das Göttliche und Ewige sich in ihnen bezeuge.

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LeerEs ist, wie wenn in dem hellen Schein eines strahlenden Lichtes bestimmte Gegenstände, bestimmte Formen aus dem Raum rings umher hervortreten, im Schein dieses Lichtes in einer nie gekannten Schönheit erstrahlen und erst damit in ihrem verborgenen Wesen sich darstellen und offenbaren. So wird das Licht zum Gleichnis dessen, was Christus für die ganze Welt bedeutet, so wird das als Keim neuen Lebens in die Erde gesenkte Korn zur Darstellung des Opfers, das auf Golgatha gebracht wird, und das gebrochene Brot zur Vergegenwärtigung des sich selbst an die Seinen austeilenden Christus; so findet der Weinstock sein Gegenbild und seine Erfüllung in dem wahrhaftigen Weinstock Christus, der alle seine Reben mit fruchttragendem Leben nährt.

LeerDas ganze Jahrbuch, in das diese Zeilen einführen sollen, ist eine Ausführung dieses einen Gedankens. Um dieses Wort „Gleichnis” ist mancher Streit entbrannt. Es ist darum nicht überflüssig, noch einmal diesen Gedanken gegen ein dreifaches Mißverständnis abzugrenzen.

LeerEs handelt sich nicht um eine allegorische Deutung der Natur. Es ist das Kennzeichen der allegorischen Rede, daß sie das, was sie „eigentlich” meint, in einer Hülle des „Uneigentlichen” verbirgt. Sie redet in einer mehr oder minder leicht zu durchschauenden Geheimsprache, aber wir merken, daß wir das, was unsere Augen sehen oder unsere Ohren hören, „nur symbolisch” verstehen und unsere Aufmerksamkeit gerade auf das andere, das wir nicht unmittelbar sehen und hören, richten sollen. Wenn die Natur allegorisch, „nur symbolisch” verstanden wird, dann wird ihr unmittelbares Sein, ihre Gestaltenfülle, ihre Lebensvorgänge „entmächtigt”. Sie soll gerade das nicht sein, was sie zunächst ist; sie wird nicht ernstgenommen in ihrem naturhaften Dasein. Die Neigung dazu kennen wir sehr wohl aus ungezählten Beispielen geistlicher Naturdeutung. Wem einmal das Auge geöffnet ist für die geistigen Hintergründe der naturhaften Welt, der ist nur allzu schnell bereit, in tausend Einfällen geistiger und geistlicher Beziehungen zu schwelgen; alles und jedes, Blumen und Tiere, Sterne und Wolken werden zu Verkörperung von Ideen. Aber der Blick ist nicht auf diese Verkörperung, sondern durch sie hindurch auf solche Ideen gerichtet. Die „Erscheinung” wird zum bloßen Schein, unwesentlich und unwirklich.

LeerDem gegenüber ist es ganz ernst gemeint, wenn Jesus uns mahnt: schauet die Lilien an, schauet die Vögel an. Die Gleichnishaftigkeit der Dinge enthüllt sich nicht dadurch, daß wir uns bei ihnen etwas denken, sondern daß wir sie anschauen und sie ernst nehmen in dem, was sie sind. Es ist kein Zufall, daß wir heute gerade an Naturphotographien diesen gleichnishaften Tiefensinn der sinnlichen Wirklichkeit „anschauen” lernen. Die Photographie zwingt uns mit schärfster Genauigkeit zu sehen und zu erkennen, was in diesen Blumen, in einer Tiergestalt, in einem Sternennebel wirklich gegeben ist. Das Licht des Glaubens verwandelt die Natur nicht in ein durchsichtiges Glas, das unseren Blick möglichst ungehemmt durch sie hindurch leitet, sondern eher in eine farbige Scheibe gleich den alten Kirchenfenstern, die, wenn die Sonne durch sie hindurchbricht, erst in ihrer geheimnisvollen Pracht aufleuchten.

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LeerEs darf also keine Rede davon sein, daß die sinnliche Fülle und die reale Gegenständlichkeit der Natur in solcher Gleichnisbetrachtung aufgelöst würde. Wenn wir von dein Geheimnis der Pflanze oder dem Gift in der Natur, wenn wir von der Predigt der Berge oder der Wiederentdeckung des Himmels reden, so wollen wir damit gewiß nicht die Schule exakter naturwissenschaftlicher Beobachtung verleugnen; aber wir wollen das, was unsere Augen sehen und was die technische Schärfung unserer Sinne vor uns ausbreitet, zugleich mit dem Auge des Glaubens ansehen und in seinem Sinngehalt begreifen.

LeerZum anderen: Dieser Sinngehalt ist nicht etwa eine neue Schicht von Eigenschaften, die wir wie andere Eigenschaften an den Elementen und Gebilden der Natur erfahrungsgemäß feststellen und aufweisen können. Er ist nicht selbst wieder ein gegenständlicher Bereich. Die Anthroposophie scheint uns von dem geistigen Wesen der Pflanze oder von den Sternenmächten bisweilen zu reden, als ob das eine Naturwissenschaft höherer Ordnung wäre und als ob wir nur die rechten Erkenntnisorgane in uns ausbilden und (sozusagen wie auf einer anderen Ebene das Mikroskop) nur das Mittel solcher Geistesschau anwenden müßten, um diese tieferen Schichten der Natur zu erkennen. Dagegen möchten wir uns sehr deutlich abgrenzen.

LeerEs ist nur der Glaube, der solche Bilder schaut und sich von Gleichnissen umgeben weiß. Nur weil wir von Gott reden, reden wir von Schöpfung. Nur weil wir um Christus wissen, finden wir die Spuren seines Wesens auch in der Schöpfungswelt. Es ist eine große Gefahr, wenn wir meinen, das Wissen um das Gleichnis wie irgendwelche anderen Kenntnisse in uns tragen zu können, die uns doch im tiefsten nicht berühren. Das Gleichnis redet vielmehr von einer Bedeutsamkeit, die, wie jede Verkündigung, uns im innersten trifft, uns richtet und erschüttert, tröstet und erhebt. Immer betrifft das Gleichnis unsere eigene Existenz, unser Schicksal, unser Heil und Unheil, Leben und Tod. Es ist eine rein religiöse Kategorie, in der wir hier „schauen” und erfahren. Die evangelische Lehre, daß Brot und Wein des Sakraments nicht zur Betrachtung, sondern zum Essen und Trinken da sind, meint an einem bestimmten, ganz entscheidenden Punkt eben diesen Unterschied.

LeerEndlich: Ist das, was hier gemeint und mit stammelnden Worten angedeutet wird, „Pansymbolismus”? Das wird so oft gegen diese Betrachtung eingewendet, hier werde die ganze Natur auf eine Ebene symbolischer Bedeutung gerückt und es werde dadurch, wie durch jede Form des Pantheismus, eigentlich gerade die Freiheit des überweltlichen Gottes und die Wirklichkeit seiner Offenbarung in eine allgemeine Tiefenschau aufgelöst. Aber das ist ja gerade nicht gemeint, wo vom Gleichnis die Rede ist. Die Natur ist keineswegs in allen ihren Bereichen und Erscheinungen im gleichen Maß durchscheinend, sondern sie wird zum Wort des lebendigen Gottes an ganz bestimmtem Ort. Die Gleichnisse Jesu lassen sich nicht willkürlich mit anderen Bildern aus der Natur vertauschen. Nicht alles wird zum „Symbol”. Ja es geht ein Riß der tiefen Zwiespältigkeit auch durch die gleichnishafte Natur hindurch. Vieles wird uns viel eher zum Gleichnis des Dämonisch-Widergöttlichen, als zum Zeichen des göttlichen Heils. Nicht nur, daß uns in der welkenden Blume und dem herbstlichen Vergehen das Todesschicksal der Kreatur erschüttert oder in einem Tierauge das furchtbare Leiden der Kreatur voll Angst und Traurigkeit anblickt; nicht nur, daß die Unendlichkeit des Weltenraumes, statt die Sehnsucht nach einer jenseitigen Heimat in uns zu stärken, uns mit dem abgründigen Grauen unendlicher Leere und einer letzten kosmischen Angst erschrecken kann ; es gibt auch echte Symbole des Dämonischen in der Natur.

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LeerMan wäre einen Augenblick versucht zu sagen, daß die unschuldige Pflanze in der Sanftmut ihres Wesens ein reines Spiegelbild friedevoller Ordnung und göttlicher Güte, das Tier aber viel mehr ein Sinnbild unerlöster und zerstörerischer Wildheit sei. Aber gibt es nicht auch Blumen, die in der unheimlichen Lebensmacht ihrer bunten Giftigkeit die dämonische Nachtseite des Lebens verkörpern und die wir darum nicht zum Schmuck neben das Kreuz aus den Altar zu stellen wagen? Und ganz gewiß ist es kein Zufall, daß die teuflische Zauberin Circe die Menschen in Tiergestalt verwandelt und daß Künstler, wenn sie die Abgründe der Bosheit und des Lasters, des Hasses, der Gier oder wollüstiger Geilheit gestalten wollten, ihren Abscheu und ihr Grauen in Tiergestalten gebannt haben; und doch kann auch das Tier, die reine Taube oder das unschuldig und stumm dahingeopferte Lamm zum Sinnbild der Wiedergeburt aus dem Geist und der Erlösung werden.

LeerDiese Zwiespältigkeit des Natursymbole wird uns am Feuer besonders eindringlich. Wir wüßten wahrhaftig wenig Eindrücke aus der Natur zu nennen, die uns so sehr im Innersten aufwühlen und erschüttern, wie die gewaltig zum Himmel emporzuckende Flamme; aber es ist kein Zufall, daß im Umkreis des christlichen Glaubens das Feuer niemals wirklich zum Symbol des Göttlichen geworden ist, es sei denn in der gebändigten und gereinigten Form der still leuchtenden Flamme. Darum ist auch das ergreifende Sinnbild, das die katholische Kirche in früher Morgenstunde des Ostersamstag übt, wenn sie aus dein Stein das Feuer schlägt und aus der so erweckten Flamme die Osterkerze entzündet, ein wundervoller Hinweis darauf, wie hier das naturhafte Geschehen, indem es in den Raum der Kirche hineingetragen wird, gereinigt und entsühnt und zu einem Gleichnis des göttlichen Lichtes geweiht wird.

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LeerIn manchen Stunden, während ich diesen Band unseres Gottesjahrs vorbereitete, habe ich mit Zagen empfunden, wie kühn der Versuch ist, den wir unternehmen, wie gefährlich der Weg, den wir beschreiten. Es mangelt uns an gebahnten Wegen in dieses Land, es mangelt uns an der heilsamen Zucht einer bewahrten kirchlichen Lehre. Die Gefahr ist groß, daß wir, begierig nach neuen Erkenntnissen, mehr sagen, als wir verantworten können, oder ohne kritische Besinnung nachsprechen, was andere in dem Enthusiasmus neuer Erkenntnisse verkünden. Manche werden es für zu armselig und gering halten, was hier in diesem Jahrbuch gesagt wird; andere - vielleicht sind ihrer mehr - werden schon das, was hier angedeutet wird, für allzu kühn und allzu ungesichert halten. Aber wir wollen bei aller Vorsicht und aller gewissenhaften Prüfung doch nicht aus lauter Angst vor den schnell fertigen Urteilen selbstsicherer Theologen und anderer Kritiker das verschweigen, was uns befreiend und beglückend aufgegangen ist. Wenn etliche daraus eine klärende Hilfe empfangen, so ist das Wagnis doch gerechtfertigt. Freilich, es ist ganz und gar unvollständig, was in den Aufsätzen dieses Bandes gesagt ist. Ein Jahrbuch ist kein Lehrbuch.

LeerEs hat nicht den Ehrgeiz und nicht die Pflicht, einen Gedanken umfassend und systematisch zu entfalten. Es kann nur an Beispielen gezeigt werden, was mit solcher gläubigen Naturbetrachtung gemeint ist. Von vielem anderen müßte auch geredet werden, von vielem anderen hätten wir gerne geredet, wenn Raum und Kraft dazu nicht mangelten. Hier steht nun nichts von dem überschwenglichen Lob Gottes aus der Natur - freilich kein heutiges Wort könnte den Zusammenhang dieses Gotteslobes mit dem Glauben tiefer aussprechen als das eine Lutherwort, das wir eingefügt haben; hier steht nichts von dem Geheimnis des Windes und des Atems, in dem sich unser Wort formt, nichts von dem Wald, in dessen Rauschen unsere Vorväter die Stimme der Gottheit vernommen haben, nichts von Kristall und Edelstein und Gold, die in der Symbolsprache der Kirche so bedeutsam gewesen sind. Niemand weiß schmerzlicher um diese Lücken als der Herausgeber. Es können nur Beispiele sein, die gegeben werden. Aus diesen Beispielen, durch die Verschiedenheit ihres Gegenstandes, auch durch die Verschiedenheit der Sprache, des Temperaments, der Vorsicht oder Kühnheit der Verfasser hindurch mag der willige Leser doch immer das eine spüren, was uns, die wir in gemeinsamer Arbeit verbunden sind, am Herzen liegt: daß die ganze Natur in einem neuen Sinn und einer neuen Bedeutungsfülle sich vor uns breitet, wenn uns an einem Punkt das Geheimnis des Gleichnisses aufleuchtet:


Licht ist das Kleid, das Du anhast.

Das Gottesjahr 1932, S. 24-33
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-27
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