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Tägliche Bibellesung
von Rudolf Spieker

LeerWir meinen mit täglicher Bibellesung nicht eine verdienstliche Leistung. Täglich in der Bibel lesen ist ebenso wenig im frommen Sinn verdienstlich wie den Acker graben, Schule halten oder zur Börse gehen. Eher schon ist es ein Stück der täglichen Askese, die wir auch vom evangelischen Standpunkt durchaus bejahen. Askese ist Übung, leibliche und geistige Zucht. Zu ihr gehört ebenso wie vielleicht Morgengymnastik auch die heilsame Zucht des Geistes, seine Einspannung auf ein letztes großes Ziel, die Taufe des Menschengeistes am ewigen Quell. Ein Bad des Geistes könnte die tägliche Lesung aus der Heiligen Schrift wohl sein.

LeerWarum aber soll es die Bibel sein? Daß es die Zeitung nicht sein dürfte, wird jeder einsehen, der sich noch etwas Sinn für seelische Lebenshaltung bewahrt hat. Der Tag bringt gerade Durcheinander genug, als daß man noch am Anfang und Ende des Tages - das sind die gegebenen Zeiten der täglichen Lesung - die Seele mit dem wahllosen Vielerlei der Zeitung überschütten sollte. Aber warum nicht an Tagesanfang oder -Ende ein schönes Gedicht, das Wort eines großen Menschen, ein Zeugnis aus fremden Religionen, wie Sie uns im „Buch der Stunde” oder ähnlichen Sammlungen dargeboten werden? Natürlich könnte es das alles auch sein. Die Gemeinschaft einer Freizeit kann sich wohl auch um derartiges sammeln und muß es tun, solange für die Glieder dieses Kreises der Weg zu Kirche (im großen und weiten Sinne) und zur Bibel noch versperrt ist. Aber gerade der längere Gebrauch solche außerbiblischen Lesungen führt zur Erkenntnis, daß sie nichts für die Dauer sind. Lyrik von Goethe bis Hoffmannsthal bleibt subjektiv, es fehlt die Verbundenheit mit der großen unsichtbaren Gemeinde, die wir in den neuentdeckten alten Morgen- und Abendliedern so lebendig spüren.

LeerWorte großer Männer und Frauen - es fehlt das Auswahlprinzip. Wer gehört dahin? Augustin, Meister Eckart, Luther - gewiß, auch Zinzendorf und Bengel, Herder und Schleiernmacher, aber warum nicht Beethoven und Nietzsche, Lenin und Ghandi? Und Zeugnisse aus fremden Religionen: Zarathrustra und Laotse, die Veden, Sprüche aus Kungfutze und aus dem Koran - wir glauben fest, daß Gottes Geist auch dort weht. Aber vergessen wir denn ganz, woher wir kommen und wo wir stehn? Wir sind - wie kürzlich ein Hamburger Student sagte - des religiösen Tuttifrutti überdrüssig, wir wollen feste Speise, wir denken daran, daß wir Glieder der Kirche sind. Darum greifen wir zur Bibel, zur Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments; denn die beiden gehören zusammen, in ihnen liegt Anfang und Ende der Wege Gottes beschrieben, in ihnen hat die ewige Wahrheit für uns den stärksten und überzeugendsten Niederschlag gefunden. „Das vergängliche Irdische und die ewige Wahrheit kreuzen sich hier” (Dostojewski). Hier ist eine Sammlung, die nicht Willkür einzelner geschaffen hat, sondern einer Auslese aus dem urchristlichen Schrifttum, welche das Verantwortungsbewußtsein der christlichen Führer im 2. Jhdt. getroffen hat. Schon rein geschichtlich betrachtet sind wir durch die Bibel hineingestellt in die Verbundenheit einer über die Jahrtausende reichenden und die Welt umspannenden Gemeinschaft.

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LeerAber was lesen, nach welcher Ordnung? Denn die Bibel ist ein großer Wald, in dem man sich verirren kann. Es gibt Dickicht und Dornengestrüpp darin, durch das wir nicht durchfinden. Und bei täglicher Lesung kann man sich nicht dem Zufall überlassen und als gottgesandt ansehen, was man gerade aufschlägt. Luther ging wohl, wenn er Sammlung zwischen den Geschäften suchte, in seine Kammer, schlug sein „Psalterlein” auf und las zwei Psalmen oder drei und ließ sich von da ins Gebet führen. Aber wie kannte er auch seine Bibel! Er konnte von diesem großen Walde sagen: Es steht kein Baum darin, den meine Hand nicht geschüttelt hat. Es bliebe die Möglichkeit, bestimmte Bücher fortlaufend und abschnittweise durchzulesen; lectio continua nannten das die Alten. Das ist in der Tat eine Weg, die Bibel kennen zu lernen; es läßt auch den erfahrenen Bibelleser immer neue Entdeckungen machen, er findet Worte und Stellen, die im Winkel stehn und gerade uns besonders wichtig werden können.

LeerMan kann Schicksale und Gestalten von Männern und Frauen erstehn sehn, in denen sich etwas abbildet und darstellt von Gottes Führung und Offenbarung; man kann daraus studieren, wie Gott in der Geschichte der Völker waltet. Als solche Schriften zur fortlaufender Lesung bieten sich uns dar alle Schriften des neuen Testaments mit Ausnahme der Offenbarung, besonders vielleicht: Matth., Luk. und Apg., Joh. und 1.Joh., Röm., 1. und 2.Kor., Phil., 1.Thess., Eph., 1.Petr., Jak. Von den Schriften des alten Testaments 1. und z.T. 2.Mos., Ruth, 1.Sam., 1.Kön., Hiob, Psalter, das Büchlein Jona; aus den Apokryphen: Weish., Jes.Sir., Tobias. Aber schon die genannten führen die Hausgemeinde durch unfruchtbaren Stellen, an denen kaum lebendiges Wasser für sie zu holen ist. Erst recht sind die Schriften der Propheten, jedenfalls in Luthers Übersetzung, für die fortlaufende Lesung ein Irrgarten, durch den ohne Führung nicht durchzufinden ist.

LeerWir halten für die tägliche Lesung einen anderen Weg als den der lectio continua für ersprießlicher. Bei der täglichen Lesung lesen wir die Bibel ja nicht zu Studienzwecken. Wir wollen weder Weltgeschichte studieren noch biblischen Charakterbildern nachforschen. Sondern wir wollen auf das lauschen, was uns die Stimme Gottes für den bestimmten Tag zu sagen hat. Wir suchen am Tagesbeginn ein Wort, das uns in die Welt sendet, und am Abend das Wort, das den Tag „beschließt”. Wir halten für naheliegend, bei der täglichen Lesung dem Gang des Kirchenjahres zu folgen, das mit seinen Zeiten und Gedenktagen von Advent bis hin zu den Schlußsonntagen, welche vom Ende und Weltgericht handeln, wirklich die Welt und das ganze menschliche Leben umspannt. Um die Schaffung einer solchen Leseordnung nach dem Kirchenjahr müht sich der Berneuchener Kreis seit Jahren. Natürlich ist das auch Menschenwerk und unterliegt stets der Gefahr, daß etwas künstlich gemacht werde. Aber ist nicht eine von Menschen aufgestellte Ordnung, die sorgfältig dem Erbe der Kirche an Lesungen für die einzelnen Zeiten nachgeht und alle biblischen Bücher auf geeignete Lesungen hin durchprüft, besser als die Auslieferung an den Zufall?

LeerDie tägliche Lesung ist nicht möglich ohne Bereitung. Es gilt oft schon einen beharrlichen Kampf um die Zeit, um die 10 Minuten Stille, ehe noch der Tag mit seinen Anforderungen begonnen hat, und am Ende, wenn wir das Werk des Tages aus der Hand legen. Auch der Raum ist nicht gleichgültig. Ich gedenke dankbar der Studierstube meines Vaters mit dem Ausblick auf einen blauen Höhenzug in der Ferne; dieser Raum war die Stätte, an der sich die Familie mit allen, die im Hause beschäftigt waren, in der Morgenstunde versammelte. Zum Hören des Wortes gehört es, daß die Seele völlig zur Ruhe komme, daß abgelegt werde alle Gehetztheit, und alle Befürchtungen, Sorgen und Strebungen abgewiesen werden, die hierhin und dorthin lenken und zerren. Hier warten auf uns noch große Aufgaben der seelischen Übung und Zucht, die uns helfen können, zum rechten Hören zu gelangen.

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LeerUnd selbst dies Hören mit gesammelter, lauschender Seele ist nur die Vorstufe zu jenem inneren Hören, zu dem Gott allein eine Seele aufschließen kann. Und doch ist für dieses Letzte und Tiefste die lauschende Haltung des ganzen Menschen ebenso wenig gleichgültig wie bei Maria, von der es heißt: „Sie setzte sich zu Jesu Füßen und hörte seiner Rede zu.” Und auch jene Mit- und Nacharbeit ist nötig, welche uns von der Mutter Jesu erzählt wird: „Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in Ihrem Herzen”; eigentlich: sie hielt sie zusammen, so wie man zusammengehörige Teile eines Ganzen aneinanderpaßt. Es geht hier um ein Zwiefaches: Den inneren Zusammenhang der Worte zu erfassen und das Gehörte zusammenzuhalten mit der bestimmten Lage, in der wir uns befinden. Und damit treffen wir erst auf den entscheidenden Punkt bei der täglichen Lesung.

LeerEs ist unser Anliegen, daß das Wort zu uns komme, daß es uns lebendig werde, daß es hereindringe in die Wirklichkeit unseres Erdentages. Das biblische Wort gleicht dem Samenkorn. Es muß Erdreich haben, wenn es keimen soll. Das Erdreich für das Bibelwort ist der Alltag. Einzelne Worte, Gleichnisse, Gestalten der Bibel, mitten hineingestellt in die lebendige Wirklichkeit unserer Tage, können ein ungeahntes, bezwingendes Leben gewinnen. ... (Ausgeführt anhand von Auszügen aus Dostojewskis Werk).

LeerSo erwachen biblische Geschichten, und gar solche, die uns besonders unzugänglich dünken, zu höchster Lebendigkeit, weil sie erfüllen dürfen, wozu sie gesandt sind. Es enthüllt sich die verborgene Keimkraft der Bibelworte, wo sie in lebendiges Ackerland ausgestreut sind. Der Funke springt über, wo die Pole des irdischen Geschehens und der ewigen Wahrheit einander genähert werden. Anders ist die tägliche Lesung nicht gedacht. Ein bestimmtes biblisches Wort rückt in die Beleuchtung der Stunde, des bestimmten Augenblicks. Was es uns da sagen wird, war bei der Zusammenstellung der Lesungen für einen Jahresabschnitt nicht zu übersehn. Gewiß erweist sich manche Wahl als Fehlgriff. Wir boten Steine statt Brot. Manchesmal lag es daran, daß unsere Seele verschlossen war, wie tot. Aber ein anderes Mal ging uns in der lebendigen Umgebung des bestimmten Tages ein Wort herrlich und leuchtend auf wie die Sonne. Es stand am Morgen vor uns richtungweisend, zielsetzend; es leuchtete blitzartig hinein in jene Winkel unsres Herzens, die wir ängstlich verborgen zu halten wünschten. Es sandte uns in die Welt mit neuem Auftrag; wo wir mutlos waren, das Werk anzugreifen, hieß es uns an die Arbeit gehen mit einer Vollmacht, der wir gehorchen mußten. Oder es trat am Abend ausgleichend und Ruhe spendend vor unsre Seele, es ward zu einem Wort letzter Gewißheit, das uns Vergebung spendete, es ward zum abschließenden Wort nach unserm Tagewerk, das wir unfertig und unvollkommen aus der Hand legten.

LeerDie tägliche Lesung ist ein Ausdruck des Vertrauens darauf, daß die Verheißung nicht trüge, die der ewige Mund seinem Wort mitgegeben hat: „Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin kommt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und wachsend, daß sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen: Also soll das Wort, so aus Meinem Munde geht, auch sein. Es soll nicht wieder zu Mir leer kommen, sondern tun, was Mir gefällt, und soll ihm gelingen, dazu Ich's sende.”

Das Gottesjahr 1931, S. 110-114
© Bärenreiter-Verlag Kassel (1930)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-14
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