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1929
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Bereitung zum Gottesdienst
von Wilhelm Stählin

LeerVor einem Menschenalter hat man jungen Pfarrern bei ihrem Eintritt ins Amt gern das von Rocholl verfaßte Büchlein über „Des Pfarrers Sonntag” geschenkt, in dem mit großem Ernst darüber gehandelt wird, wie sich für den Pfarrer und damit auch für das Pfarrhaus der Sonntag gestalten müsse. Es hat mir den tiefsten Eindruck gemacht, wie eindringlich dieses Büchlein den Pfarrer mahnt, am Sonntagmorgen, bevor er zu seinem priesterlichen Dienst in die Kirche geht, die völlige Einsamkeit, die unbedingte Stille sich zu erhalten, alles, was ihn irgendwie von außen her in Anspruch nehmen und beschäftigen könnte, rücksichtslos fernzuhalten. Auch für seine Familie sollte er am Sonntagmorgen nicht da sein, damit er nicht aus dem Gespräch oder gar Geplauder mit Menschen, sondern allein aus dem Umgang mit Gott heraus seinen Dienst tun könne. Aber wie oft wird heute der Prediger durch die Menge der einander jagenden Geschäfte bis zum letzten Augenblick in Anspruch genommen und dadurch, auch wenn er selbst Notwendigkeit und Verpflichtung zu innerer Sammlung wohl verspürte, doch gehindert, aus Stille, Einsamkeit und Sammlung heraus vor die Gemeinde zu treten. Ich hörte über einen Prediger das Lob sprechen, sein Wort klinge immer, als ob es aus großer Stille komme. Das ist ein feines Lob und zugleich eine Anklage gegen alle die anderen, bei denen sozusagen noch die Unruhe der Straße, des Büros, des Sitzungszimmers in ihrem Predigen und Beten nachzittert.

LeerAber ist es nicht zugleich eine Anklage und Mahnung, die sich an die Gemeindeglieder selbst wendet? Oft habe ich mich gewundert, mit welcher naiven Gedankenlosigkeit auch wohlmeinende und ernsthafte Menschen ihren Pfarrer unmittelbar bevor er zur Kirche geht, ja selbst noch im Gotteshaus mit allen möglichen Anliegen in Anspruch nehmen, die durchaus unsonntäglich sind und mit dem Gottesdienst nichts zu tun haben. Es mag für Landleute, die einen weiten Weg zur Kirche haben, bequem sein, wenn sie einmal zum Pfarrhof gekommen sind (vielleicht auch nur deswegen, weil sie einmal ihr feierliches Kleid angelegt haben), nun gleich dies und jenes mit dem Pfarrer besprechen; und weil man nach der Kirche gern seinen behaglichen Schwatz mit dem Nachbarn hält, wählt man lieber die Viertelstunde, bevor die Glocken zusammenläuten. Wir Menschen in der Stadt haben keine solche Entschuldigung, wenn wir den Pfarrer, während er daheim noch einmal seine Predigt überdenkt oder während er sich in der Sakristei sammelt, mit dem Kleinkram irgendwelcher Anliegen überfallen.

LeerEs ist ein kleiner und bescheidener Beitrag, den wir zu der Gestaltung des Gottesdienstes leisten können, daß wir an unserem Teil dem Pfarrer helfen, die Stille und Einsamkeit zu wahren, aus der heraus er vor die Gemeinde treten soll. Die Sakristei insbesondere soll nicht die Eingangspforte sein, durch die Unrast und Alltag, Geschäftsgeist, Betrieb und Klatsch, um von Schlimmerem zu schweigen, in das Heiligtum selbst eindringen. Die Sakristei ist der Ort, wo die im Gotteshaus benötigten Geräte, Bücher und dergleichen bewahrt werden; aber am Sonntagmorgen und vor einem jeden Gottesdienst ist die Sakristei der Ort, wo der Mann, der mit seinem Wort der Gemeinde dienen soll, vorher sich noch einmal in abgeschlossener Stille sammeln kann; sie ist darum der Ort des ernstesten Gebetes, das die Not der übergroßen Verantwortung dem Pfarrer auf die Lippen legt. Kann das die Sakristei sein, wenn ihre Türe offen steht und jedermann mit seinen mehr oder minder wichtigen Anliegen die Stille brechen darf? Ich wollte wohl, daß da und dort eine Mauer treuer Freunde um den Pfarrer her wäre, die seine Stille schützen, die Zudringlichen abwehren und, was keinen Aufschub leidet, mit ihrer Fürsorge betreuen.

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LeerHoffentlich wird niemand sagen, das alles gehe ja nur den Pfarrer an und der Pfarrer solle und müsse wohl, wenn er das für nötig hält, selbst dafür sorgen, daß Störung ihm fern bleibe. Aber einmal kann er ja dafür nicht sorgen, wenn die Menschen um ihn her gar nicht begreifen, daß es für den Pfarrer eine Bereitung zum Gottesdienst gibt, die mit der äußeren Vorbereitungsarbeit nichts zu tun hat; und sodann ist der Zusammenhang ja ein noch viel tieferer. Die Rücksichtslosigkeit, mit der die Bereitung des Pfarrers gestört wird, ist ja doch ein Zeichen dafür, daß die Menschen für sich selbst die Bereitung zum Gottesdienst versäumen, ja kaum ihre Notwendigkeit begreifen. Es gibt eine Bereitung zum Gottesdienst nicht nur für den Pfarrer, sondern für alle, die daran teilnehmen. Es ist etwas anderes, ob wir aus Hetze und Betrieb oder aus feiertäglicher Stille heraus zum Gotteshaus kommen. Es soll auf niemand ein Stein geworfen werden, der in einem Übermaß von Arbeit gefangen, wirklich nur mit Mühe sich die Stunde gerade zum Gottesdienst selbst frei machen kann. Aber vieles könnte dieser letzten Stunde ferngehalten werden, wenn man es mit ernstem und treuem Willen wirklich wollte.

LeerWie manche Hausfrau und wie manche Hausangestellte steckt bis zum letzten Augenblick in geschäftiger Arbeit, nur weil man nicht am Sonnabend alle die Arbeit vorweggenommen hat, die den Feiertag selbst belastet und entweiht; und dann stürzen die Menschen im letzten Augenblick müde und abgehetzt zur Kirche, kommen zu spät, stören die anderen und fangen erst an ruhig zu werden, wenn Beten, Hören und Singen schon die gesammelte Kraft einer ruhig gewordenen Seele verlangte. Gewiß werden manche, die tagaus, tagein zu sehr früher Stunde ihren Arbeitsweg gehen müssen, den Sonntagmorgen gern zu längerer Ruhe verwenden, und es wäre sicherlich gegen Gottes Willen, der dem Menschen die Ruhe gönnt, wollten wir den müden, geplagten Menschen diese leibliche Ruhe am Sonntagmorgen verwehren. Aber ist es wirklich damit zu rechtfertigen, wenn bloße Faulheit und Bequemlichkeit sich am Sonntagmorgen länger als sonst rekelt und es nun selbstverständlich in Anspruch nimmt, daß die Hausfrau und ihre Helferinnen mit der Arbeit in Schlafzimmern und am Frühstückstisch nie fertig werden? Welche köstliche und feine Bereitung zum Gottesdienst läge umgekehrt darin, wenn alle Hausgenossen darin wetteiferten, einander am Sonntagmorgen Arbeit zu ersparen und einander die stille Stunde der Bereitung in Einsamkeit oder in der Gemeinsamkeit des Familienkreises zu verschaffen! Es gibt nicht nur einen Feierabend, sondern auch einen Feiermorgen; ihn zu versäumen heißt die Bereitung zum Gottesdienst versäumen und andere darum betrügen.

LeerDer Gang zum Gotteshaus ist ein Gang der Bereitung. „Bewahre deinen Fuß, wenn du zum Hause Gottes gehst, und komme, daß du hörest.” Dur wirst aber nicht hören, wenn du deinen Geist bis an die Pforte der Kirche oder vielleicht bis in die Kirchenbank hinein mit allen möglichen Nichtigkeiten hast füllen lassen. Man kann auf dem Wege miteinander schweigen, und dies Schweigen ist köstlich, friedsam und eine feine Zucht. Auf den Freizeiten unseres Berneuchener Kreises hat sich die Sitte bewährt, auf dem Wege zu und von den täglichen Andachten Schweigen zu wahren; aber immer wieder erfahren wir, wie schwer es manchem wird, diese Zucht zu üben; wieviel schwerer noch, in dem äußeren Schweigen das innere Schweigen der Bereitung zu halten. Man muß auch dem Mut haben, gegen den Redestrom der andern einen Damm zu bauen und in aller Freundlichkeit und in schuldiger Ehrerbietung zu bitten: ich möchte stille sein.

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LeerSchweigen und Stille sind nur scheinbar etwas Negatives. Aber sie bereiten dem Herrn den Weg, sie wehren den Nichtigkeiten und Eitelkeiten den Zutritt, damit „der König der Ehren” einziehe. Aber es gibt nun freilich auch eine positive Bereitung zum Gottesdienst. Da möge jeder zusehen, wie er sein Herz und seine Gedanken zurüsten kann. Es ist eine Hilfe, wenn man sich vorher lebendig vor die Seele stellt, was der Sinn des Gottesdienstes ist. Dies ganze Jahrbuch möchte eine Hilfe sein für eine solche Bereitung zum Gottesdienst. Wir werden anders zur Kirche kommen, wenn wir wirklich mit der Gemeinde hören, singen und beten und auch durch unseren Dienst das gemeinsame Zeugnis der Gemeinde gestalten wollen, als wenn wir nur in frommer Selbstsucht danach fragen, was wir aus dem Gottesdienst empfangen. Manche unserer Gesangbücher geben wertvolle alte oder neue Gebete, in denen wir uns sammeln können auf das Eine, das not tut.

LeerIm einzelnen ist es sicherlich von großem Wert, wenn man den besonderen Gedanken dieses Gottesdienstes, dieser Predigt schon vorher kennt. In manchen Orten wird der Text der Predigt im voraus bekannt gegeben; man wird dann die Predigt mit ganz anders bereiteter Seele hören, wenn man diesen Text vorher gelesen und um sein Verständnis gerungen hat. Für noch besser halte ich es, wenn das Thema der Predigt der Gemeinde vorher bekannt gegeben wird; oft weist das Thema viel gründlicher und eindeutiger als der Text auf den Inhalt der Predigt hin. Welche Hilfe auch für den Prediger, wenn er weiß, daß unter seiner Kanzel eine Anzahl von Menschen sitzen, die das besondere Thema dieser Predigt im voraus in ihren Gedanken und in ihrem Gewissen bewegt haben! Wenn man will, kann man wohl auch erfahren, welche Lieder gesungen werden; wie ganz anders werden die Lieder gesungen, wieviel lebendiger der Gang des ganzen Gottesdienstes miterlebt, wenn auch nur ein Teil der Gemeindeglieder sich in diese Lieder vorher versenkt hat!

LeerDas alles ist Bereitung zum Gottesdienst. Es gibt eine letzte Bereitung. Wenn wir durch die Pforte der Kirche getreten sind, dann soll wirklich hinter uns liegen aller Staub und Schmutz, alle Sorge und aller Streit. Jetzt treten wir wirklich vor das Angesicht unseres himmlischen Vaters, treten unter das Kreuz, das als das beherrschende Zeichen des Gotteshauses unser Auge zu sich zwingt. Wenn wir alle wüßten, was das ist, und ernst nähmen, was das heißt, dann könnte nie und nimmer diese leise oder kaute Unruhe das Gotteshaus durchzittern; dann könnte niemand sagen, das Vorspiel der Orgel habe den Sinn, das Geräusch der zu spät kommenden oder noch schwatzenden Kirchenbesucher zu übertönen; dann würde dies Zusammenströmen der Gemeinde, der gesammelte Ernst, mit dem jeder einzelne sich an seinen Ort stellt - in äußerlichem und in ganz innerlichem Sinn - , selbst Gottesdienst sein, die gemeinsame Sammlung, die auch den Gedankenlosen und noch Zerstreuten hereinzöge in den Ernst der rechten Bereitung:
Der Herr ist in seinem heiligen Tempel.
Es sei stille vor ihm alle Welt.
Das Gottesjahr 1929, S. 42-46
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-14
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