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1928
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Vom jüngsten Tage
von Karl Bernhard Ritter

Leer„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde verging, und das Meer ist nicht mehr. Und ich, Johannes, sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet als eine geschmückte Braut ihrem Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Stuhl, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen; und er Wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen; und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Stuhle saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu. Und er spricht zu mir: Schreibe; denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiß.” So weissagt Johannes, der Seher, und ich möchte diese Worte wohl so stehen lassen und nichts hinzufügen, es wäre mit ihnen alles gesagt, was vom jüngsten Tag zu sagen ist. Denn hier klingt eine Melodie des Glaubens, die das ganze Buch des Sehers füllt; und alle gewaltigen, furchtbaren und wundersamen Gesichte des Johannes auf der Insel Patmos, die Gesichte vom Gericht und Ende und Sturz des Drachen aus der Tiefe und die Gesichte voll Trost der Erlösung und vom Triumph des Lammes sind wie die Akkorde zu dieser Melodie von dem Sieg der ewigen Liebe. Darum schließt das Buch des Sehers und damit die ganze heilige Schrift mit dem Gebet um diesen Sieg der Liebe, wie sie offenbar geworden ist in dem Einen, dessen Gestalt in der Zeit sichtbar werden ließ, was von Anfang war und was deshalb sein wird von Ewigkeit zu Ewigkeit, mit dem Gebet um die Wiederkehr dessen, des Reich kein Ende haben wird: Ja, komm Herr Jesus!

LeerWenn der Glaube das Wort aus der Ewigkeit in der Zeit vernimmt, wie könnte er anders als ausschauen nach dem Tag, da die Zeit in der Ewigkeit mündet. So steht denn der Glaube an der Schwelle von Zeit und Ewigkeit. Was Gott angefangen hat, das muß er auch vollenden. Sein Reich ist ein ewiges Reich. Darum ist das Leben des Glaubens hier in der Zeit nur ein Anheben, ein Traum auf die Verheißung. „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich's stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.” Es ist das unbegreifliche Wagnis des Glaubens, daß er mitten in der Zeit und in der Welt sich der Ewigkeit und dem Himmel zuwendet, daß er es wagt, dem Wort aus der Ewigkeit zu trauen und also in der Welt doch nicht von der Welt und nicht für die Welt lebt. Also wandelt sich ihm die Zeit zum Advent, zur Erwartung dessen, der da kommt. Er lebt im Schein der aufgehenden Ostersonne. Und so wird ihm das Leben wahrhaftig zum Leben, zu der ewigen Bewegung aus der Gebundenheit in die Freiheit, aus dem Tode in den Sieg, aus der Verlorenheit in die vollkommene Gemeinschaft. „Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.”

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LeerWann ist der jüngste Tag? Die Sage erzählt: Am Rande der Welt ragt ein Berg in die Wolken. Er ist aus lauterem Demantsein. Alle tausend Jahre kommt ein Vogel geflogen und wetzt am Berg sein Schnäbelein. Und wenn der ganze Berg abgewetzt ist, dann ist der erste Tag der Ewigkeit angebrochen. Der jüngste Tag steht nicht im Kalender der Zeit. Zeit ist Endlichkeit, aber Ewigkeit hat keine Zeit. So ist der Tag der Ewigkeit heute und morgen und in tausend Jahren. Dennoch müssen wir sprechen von dem jüngsten Tag, dem Ende der Endlichkeit, da alle Zeit in der Ewigkeit aufgehoben ist. Weil der Glaube dem Worte gehorsam ist, das aus der Ewigkeit in die Zeit hineinklingt, darum steht er in der Erwartung des jüngsten Tages. So ist das Neue Testament erfüllt von der doppelten Weisung: „Wahrlich, ich sage euch: dies Geschlecht wird nicht vergehen, bis daß dieses alles geschehe”. Und der anderen, scheinbar widersprechenden: „Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel nicht im Himmel, sondern allein mein Vater”. Wir wissen kein Ende der Zeit; dennoch leben wir in jedem Augenblick an diesem Ende. Daraus ergibt sich die Haltung des Glaubens: „Darum wachet; denn ihr wisset nicht, welche Stunde euer Herr kommen wird”.

LeerAn der Altarwand der Sixtina hat Michelangelo das jüngste Gericht gemalt. In der Höhe steht Christus. Mit machtvoller Gebärde hebt er die einen aus der Tiefe empor. Sie steigen auf in Licht und lassen das Grab der Welt wie ein Gewand zurück. Aber die anderen taumeln haltlos von Stufe zu Stufe hinab in die äußerste Finsternis. Ist es eine Vision zukünftigen Geschehens? Oder ist es nicht vielmehr eine Schau dessen, was immerfort geschieht, ein Tiefblick in die wahre Wirklichkeit alles Lebens, ein Bekenntnis erschütternder Erfahrung? Was da gemalt ist, geschieht immerfort, in jedem Augenblick. Alles Leben ist ein Steigen und Fallen, ein Aufgang und ein Untergang. Unablässig vollzieht sich das Gericht, wird über Seligkeit und Verdammnis entschieden. „Das ist aber das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht.” Ist dies Gericht nicht ständige Gegenwart, die Tiefe alles Lebens, zu allen Zeiten, so gewiß es wahr ist, daß das Licht scheint, vom Anfang an bis zum Ende aller Zeiten, wie geschrieben steht: „In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis”?

LeerDennoch: Das wahrhaftige Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen, es kommt in die Zeit. Das Wort wird Fleisch. Ewigkeit wird zur Geschichte. So erst wird die Zeit wahrhaftig zum Schauplatz ewigen Geschehens. Und darum reden wir von dem Tag der Wiederkunft Christi, weil er in der Geschichte erschienen ist. In der Zeit selbst wird der Zeit ein Ende gesetzt. Der jüngste Tag ist so unbegreiflich und wunderbar wie der Tag, von dem wir singen: „Das ew'ge Licht geht da herein, gibt der Welt ein'n neuen Schein” und ist doch auch ein Tag unserer Zeit, die Mitte aller Zeiten.

LeerDas Verborgene soll offenbar werden. Darum reden wir vom jüngsten Tag. Was zu allen Zeiten in der geheimen Tiefe des Lebens geschieht und was immer ein Anheben bleibt, weil es nicht voll-endet ist, weil es nicht erfüllt ist und alle Gestalt des Lebens durchdringt und wandelt, es wird als die Wahrheit auch die Wirklichkeit und das Ganze sein. Wir sind es so gewöhnt, Geist als bloße Innerlichkeit zu fassen. Aber der Glaube will das ganze Leben, will, daß das Innen und Außen eines werde. Er lebt in der Spannung, die immer aufs neue in der Hoffnung des Glaubens versöhnt wird. Glaube will Schauen werden, „auf daß Gott sein alles in allem”. Was im Glauben erfahren wird, es wartet auf seine Erscheinung in allen Stufen des Seins, auf allen Ebenen der Verwirklichung.

LeerUnd wir sind so gewöhnt, uns als Einzelne, als Individuen zu empfinden. Aber was ist unser Leben ohne den Zusammenhang mit allem Lebendigen? Ist individuelle Vollendung auch nur denkbar? Denkbar anders als im Einklang mit der Vollendung des Ganzen? Ist nicht das gerade die Tiefe der Erkenntnis Gottes, daß er Liebe ist und darum sein Reich vollkommene Vergemeinschaftung alles Lebens? So sind Gericht und Heil in voller Wirklichkeit nur zu finden an einem Tage, da alles Leben, die ganze Schöpfung und die ganze Geschichte, zu ihrem Ziel kommen. Darum wartet der Glaube auf das Kommen des Reiches, auf den Tag, da seinem Herrn alles untertan sein wird. Darum wartet der Glaube auf den jüngsten Tag, da in einem Gericht der ganze Leib, dessen unlösbares Glied wir sind, erweckt wird zum ewigen Leben und die ganze Welt vergeht.

Das Gottesjahr 1928, S. 89-91
© Greifenverlag Rudolstadt (Thür.)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-13
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