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1928
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Zweierlei Zeit
von Wilhelm Thomas

LeerWenn wir wandern „von einem Jahr zum andern”, kehren wir dann mit jedem Jahresneubeginn in den ersten Kreislauf zurück, oder geht es weiter in ein ganz Neues hinein? Gewiß, es ist jedesmal ein Stück unseres Lebens abgeschlossen, wir stehen dem Ende unseres irdischen Weges näher, aber vielleicht ist das nur die beschränkte Betrachtungsweise, wie sie dem Einzelmenschen naheliegt; gehen nicht Völker und Kulturen dahin wie Blumen auf dem Felde und haben alle ihre Zeit, immer wieder den gleichen Kreislauf des Werdens und Vergehens?

LeerEin Blick, der die Wirklichkeit sehen  w i l l , so vielgestaltig, wie sie ist, der nicht voreilig entscheiden will, ehe er überhaupt gesehen hat, wird sich zunächst einmal vergegenwärtigen, daß es zwei ganz verschiedene Dinge sind, die in solcher Rede ZEIT genannt werden. Auf der einen Seite steht die Wiederkehr des immer Gleichen, der ewige Kreislauf. Er ist da, er ist wirklich in tausend Gestalten: „Solange die Erde stehet, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht”. Im Menschen selbst der gleiche wiederkehrende Wechsel von dem Kreislauf der Atmung und des Herzschlags bis hin zu dem für den Arbeitsmenschen so bedeutsamen Kreislauf der Woche und bis zu den großen Jahresperioden, die das Feingefühl des Biographen aus dem Leben eines Dahingegangenen herausspürt. Und auf der andern Seite der schlechterdings geradlinige Strom der Zeit, der in stetem Fluß dahinströmt; eine Zeit, deren sämtliche Zeitpunkte einmalig und unwiederholbar sind, eine unerbittliche Ordnung, unter der das Leben des Einzelnen wie des Volkes steht; eine unaufhaltsame Bewegung, die auch in den ruhigsten Kreislauf hineinwirkt und jeder seiner Phasen etwas von ihrer eigenen Unruhe und Ratlosigkeit mitteilt; jener Strom der Zeit, der allen Abgrenzungen durch die irdischen Kreisläufe und allen menschlichen Zeitteilungen zum Trotz als ein unendliches Band aus der Unendlichkeit in die Unendlichkeit läuft, in seiner unendlichen Einmaligkeit schreckhaft zu sehen wie die Ewigkeit selbst.

LeerWas ist wirklicher, daß alles wiederkehrt, oder daß nichts wiederkehrt? Daß wir im Kreis wandern, oder daß wir nie in die Vergangenheit zurückkommen? Was ist wirklicher, die kreisende Zeit oder die flüchtende Zeit? Wir spüren: es ist beides in seinem Sinn wirklich. Und doch müssen wir die Entscheidungsfrage stellen. Es hängt der Sinn unseres Lebens daran, daß dies Nebeneinander und Ineinander von „Gezeiten” und Zeitenstrom nicht ein unvermitteltes Nebeneinander von zweierlei Zeiten bleibt. Eines von beiden macht den eigentlichen Sinn unseres Lebens aus.

LeerDie Menschen haben immer wieder - von den ältesten Zeiten bis zu Oswald Spengler - den Strom der Zeit als die immer erneute Wiederkehr des Gleichen zu erfassen und den ganzen Ablauf der Zeit in den kleinen Kreislauf unseres Gesichtskreises hineinzudenken versucht, bis dahin, wo dem Menschen schwindelt und er, statt weiter zu denken, den Sprung in die Zeitlosigkeit tut. Im irdischen Leben des Menschen, der Völker und der Kulturen nur mehr Bruchstücke eines ewigen Kreislaufs zu sehen - ist das nicht ein Irrtum? Ein Irrtum, dessen tiefste Wurzel darin liegt, daß der Mensch unfähig und zu feige ist, den Gedanken der Zeit zu denken? Daß er aufgehört hat, „Zeit” zu denken, Zeit in der ganzen Ernsthaftigkeit und Unerbittlichkeit des Wortes?

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LeerDenn so ist es doch: Alle diese „Gezeiten” der wiederkehrenden Zeit haben etwas Harmloses im Vergleich mit der „Zeit”. Es hat etwas traumhaft Spielerisches, Unverbindliches, im regelmäßigen Kreislauf von Morgen und Abend, von Sonntag und Werktag, von „Fest” und „geschlossener Zeit” zu leben, etwas Ruhiges, Gesichertes, Gesundes. Und es hat ebenso etwas schmerzhaft Beanspruchendes, Aufregendes, das sich nicht mehr zur Ruhe bringen läßt, daß wir, stets von dem Stachel des „zu spät” bedroht, vorwärts stürmen oder uns nur vorwärts schleppen müssen in der unaufhörlichen Flucht der Zeit. Was eigentlich Zeit ist, spüren wir nicht an der kreisenden, sondern an der flüchtenden Zeit, nicht an den wiederkehrenden Gezeiten, sondern an der einmaligen und unwiderruflich dahingleitenden Zeit. Darum ist uns die Zeit wirklicher und ernsthafter als die Gezeiten; die Zeit trägt die Gezeiten in sich, aber nicht umgekehrt.

LeerDarum gehört es zur Selbstbescheidung des Kalendermannes oder der Kalendermänner, daß sie, die in einer chaotischen Zeit die Kreisläufe des Lebens vom Tag bis zur Lebensspanne unermüdlich ins Licht stellen, damit die bestimmenden Ordnungen den Menschen aus der Uferlosigkeit und Langeweile seines gehetzten Daseins lösen, daß sie einmal das ganz andere mit großem Nachdruck sagen: daß die Erkenntnis aller dieser feierlichen Lebensrhythmen nur ein harmloses Vorspiel ist zu der Erkenntnis der Zeit selbst, der einmaligen, flüchtenden, nie wiederkehrenden Zeit.

LeerDer Kalender findet seine regelmäßige Aufgabe darin, die Menschen zu lehren, durch das Fenster der wiederkehrenden Gezeiten in die Ewigkeit hindurchzusehen. Er lehrt sie die bunten Farben, in denen die Festtage des Jahres, die heiligen Stunden der Woche wie des Tages erglänzen, als die Berechnungen des einen Lichts verstehen, das aus der Ewigkeit in die Zeit hineinbricht. Er verkündet eben damit die Heiligkeit Gottes, indem er uns lehrt, daß wir nie in das volle Licht der Sonne den Blick zu erheben vermögen, sondern uns mit der Versenkung in den Zauber der Brechungsstrahlen begnügen müssen, in die die heiligen Zeiten die Herrlichkeit Gottes zerlegen und entfalten. Ruhigen Schrittes dürfen wir, von einem zum andern weiterschreitend, anbeten, was doch an sich eins ist, ewig unwandelbar und unwandelbar ewig. Vom Morgen zum Morgen malt der Tag den Weg der Welt aus der Ewigkeit in die Ewigkeit, vom Schöpfungsmorgen zum Auferstehungsmorgen. Im Kreislauf der Feste führt uns das Jahr durch die ganze Fülle der Gottheit und ihrer Taten: Der Schöpfer, der Erlöser und Vollender, der Gesetzgeber und Richter und Erretter. Aber wir können das nicht unmittelbar zusammen schauen, sondern es muß uns erst auseinandertreten in Weihnacht und Ostermorgen, in Karfreitag und Pfingstsonntag: erst dann dürfen wir versuchen, das tausendfältige Wunder als das Wunder der Dreifaltigkeit und die Dreifaltigkeit als Dreieinigkeit zu schauen und zu feiern.

LeerGanz anders fällt das Licht der Ewigkeit in die Zeit der unwiederholbaren Einmaligkeit. Hier malt sie keine bunten Farben, hier schafft sie keine Transparente. Aber sie wirft Licht und Schatten, und seltsam genug: doppeltes Licht und doppelten Schatten. Vom ewigen Ursprung her strahlt uns in jedem Augenblick der Zeit die Schöpfungsgnade als ein Licht aus der Vergangenheit entgegen, als ein Licht, von dem wir in jedem Weiterschreiten in die Zukunft hinein mehr und mehr verlieren. Wir erliegen dem, was der Naturforscher „Entropie” nennt, der Vergeudung der Schöpfungskräfte. Und zugleich fällt auf jeden Augenblick Licht aus der fernsten Zukunft, von den „letzten Dingen” her und überschattet uns mit der Gnade der Erlösung; dieses Licht, das vom Ende der Tage her leuchtet, taucht alles, was in der Zeit ist, in den finsteren Schatten der Unzulänglichkeit und Schuld, und gießt doch zugleich darüber den Schimmer einer Verheißung, die uns vorwärts treibt, dem doppelten Gericht der Ewigkeit zum Trotz, einer ewigen Vollendung entgegen.

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LeerAber nicht nur gleichsam von außen liegt der Glanz der Ewigkeit auf dem Zeitenstrom. Die Ewigkeit zerbräche, wenn man ein Glied aus der Kette nähme, die von der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft läuft. Jeder Punkt auf dem Wege, der von Ewigkeit zu Ewigkeit geht, ist etwas ganz Neues und vorher Unerhörtes, eben weil kein Augenblick wiederkehrt. Freilich kann man deswegen die Punkte der Zeit nicht einander gleichsetzen. Die Stunde, da Christus geboren ward „zu Bethlehem im jüdischen Lande”, und die Stunde  d e i n e r  Geburt sind gleichgewichtig für deinen Weg in die Ewigkeit und doch wieder völlig unvergleichbar in dieser ihrer Bedeutung. Es ist eben jede „unmittelbar zu Gott”, aber nur deshalb, weil sie alle zusammen strömen „von Ewigkeit zu Ewigkeit”, In jeder offenbart sich Gott, aber in keiner ist die Ewigkeit ungehemmt in die Zeit hereingebrochen, auch da nicht, da Christus aus dem Kreuzesgrabe aufersteht; denn auch das, was in dieser Stunde geschehen ist, ist nur ein Anbruch, eine Erstlingstat von dem, was am Ende der Zeit Wirklichkeit wird: von der Auferstehung der Toten. Die Ewigkeit bleibt in der Ewigkeit, und doch gehört sie streng und untrennbar zu jeder Welle in dem Lauf des Zeitstroms.

LeerHat es einen Sinn, von heiligen Zeiten zu reden? Die heiligen Zeiten und Stunden der wiederkehrenden Gezeiten stehen im Kalender; aber im Strom der Zeit ist jede kommende Stunde gleich heil- und unheilschwanger, kann jede Stunde die Stunde der Entscheidung, die Stunde des Gerichtes und der Gnade der Erlösung werden. Ja selbst die Vergangenheit ist noch rätselhaft offen; jede Stunde unseres Lebens, jede Stufe in dem Lebensgang unseres Volkes kann noch aus ihrer Bedeutungslosigkeit auftauchen in das Schlaglicht der Ewigkeit und von daher im Schatten tiefer Schuld oder im Glanz höchster Beseligung liegen.

LeerDaß wir erkennen, wie Zeitenwiederkehr und Zeitenflucht sich zueinander verhalten, davon hängt die Gestaltung unseres Lebens ab. Diese Erkenntnis entscheidet darüber, wie Tat und Versenkung, wie Auskaufen und Auskosten der Zeit zueinander stehen müssen. Wäre die Zeit nur Wiederkehr des wesentlich Gleichen, dann wäre es unsere Lebensaufgabe, uns Tag für Tag vorzubereiten auf die Höhepunkte des Kreislaufes, zu ruhen in der Versenkung in die Wunder, die er uns schenkt, dankbar seine Gaben zu empfangen und wieder weiterzuwandern von einem Fenster der Ewigkeit zum andern, stets der Ewigkeit gleich nahe und gleich ferne bleibend. Dann ginge die Zeit immer langsam genug, um alle ihre Offenbarungen auszuschöpfen, immer langsam genug, um immer einem Höhepunkt nahe zu sein.

LeerNun aber ist das alles, so heilsam es sein mag, nur eine Zugabe, oder auch eine Vorahnung und Einladung für das Leben in der großen Flucht der Zeit „von Ewigkeit zu Ewigkeit”. Da gilt es nicht ein Zur-Ruhe-kommen in der erfüllten Stunde, sondern nur ein Kraftschöpfen; das aber, was die Zeit gotterfüllt macht, ist das Vorwärtsschreiten, die Tat, die Entscheidung. Hier heißt Beten nicht lobend und preisend sich versenken, sondern ringend bitten und bestürmen, und aus dem Dank für die Vergangenheit die Hoffnung für die Zukunft gewinnen. Gewiß kommt es beide Male darauf an, den Augenblick ganz ernst zu nehmen, aber das eine Mal, um die Farbe zu sehen, mit der er sich in dem Regenbogen der göttlichen Gnaden dem Ganzen unseres Lebens eingliedert; das andere Mal aber, um durch diesen Augenblick hindurch selbst der Vollendung entgegenzudringen. Das, was die Zeit heilig macht, kommt ihr allein aus den letzten Dingen. In der flüchtenden Zeit finden wir Gottes Gnade nur, indem wir bittend ihn bestürmen: Erlöse uns von dem Uebel; zu uns komme dein Reich!

LeerUnsere Zeit braucht die Predigt von der Zeit, die Predigt von der unwiderruflich vorwärtsstürmenden, unwiderruflich verrinnenden Zeit. Weiß unsere Zeit nicht von selbst darum? Sie kennt wohl den Strom, aber sie kennt nicht Ursprung und Mündung. Sie weiß nicht, was es heißt, daß die Zeit geht „von Ewigkeit zu Ewigkeit”. Darum brauchen wir wohl auch dies, daß wir aufschauen lernen aus unserem Dahintreiben, daß wir uns versenken in die Wunder der Zeitenwiederkehr, und am Morgen und am Abend, an Weihnachten und Ostern das Licht der Ewigkeit auf uns zukommen lassen. Aber unser eigentliches Leben ist das Leben in der wirklichen ZEIT, in dem großen und unerbittlichen Ernst dieses Wortes, das Leben im einmaligen und unwiederholbaren Geschehen, mitten in dem Strom, der dahinfährt von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Das Gottesjahr 1928, S. 23-27
© Greifenverlag Rudolstadt (Thür.)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-13
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