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Ende
von Ludwig Heitmann

LeerDas ist es, was der Woche das Zeichen des lebendigen Gottes aufprägt, daß sie einen Anfang und ein Ende hat. Kennten wir nur den ewig gleichförmig fortlaufenden Zeitenstrom, wir müßten nichts von dem lebendig gestaltenden Schöpfer aller Dinge. Darum mußte das Zeitalter des starren Kausalitätsgesetzes und der mathematischen Zeitanschauung in seiner Weltbetrachtung „gottlos” werden, weil es nur die ununterbrochene Linie kannte, nicht aber den Anfang und das Ende, die das Merkzeichen alles Lebendigen sind. Wir bezeichnen es als eine Großtat des Menschengeistes, daß der gleichförmige Zeitenstrom in abgeschlossene Zeiteinheiten zerschlagen wurde. In Wahrheit ist es, wie die Bibel lehrt, eine Offenbarung des lebendigen Gottes, daß auch in der Flucht der Tage ein Anfang und ein Ende gesetzt wurde. Nun nimmt auch die Zeit, die tote, starre, im ewigen Einerlei dahinrinnende, an dem schöpferischen Leben des lebendigen Gottes teil.

LeerWer will die unbeschreibliche Wohltat ausschöpfen die darin liegt, daß unsere Arbeitswoche ein Ende hat!
„Das Haupt, die Füß' und Hände
sind froh, daß nun zum Ende
die Arbeit kommen sei.
Herz, freu dich, du sollst werden
vom Elend dieser Erden
und von der Sünden Arbeit frei!”
LeerUnerträglich wäre alles Leben, wenn ihm nicht die Hoffnung auf das Ende geschenkt wäre. Kein Glück dieser Erde kann so groß sein, keine Freundschaft so reich, keine Arbeit so schwungvoll, kein Erlebnis so beglückend, kein Geschichtstag so ruhmerfüllt, daß der Gedanke, dies alles würde ewig fortdauern, erträglich wäre. Alles, alles auf dieser Erde wird durch die Länge der Zeit abgestanden. Es ist wirklich so, wie es das Märchen erzählt: Dieser Erdentag, ins Endlose verlängert, ist die Hölle selbst. Es ist Gottes unergründliche Güte, daß er allen Dingen ein Ende gesetzt hat.

LeerHier liegt der greifbarste Beweis dafür, daß dies Erdenleben seinen Sinn nicht in sich selber trägt. In jedem Horchen auf den Stundenschlag, in jedem Lauschen auf den Tritt der ablösenden Wache, in jedem Sehnsuchtsblick des müden Auges auf die nächste Stunde tritt die Wahrheit neu vor uns hin: Das Leben ist auf das Ende hin geschaffen.

LeerDas ist nicht etwa die Weisheit eines müde gewordenen Geschlechts. Die Lebensstarken und -frohen kennen am tiefsten die Sehnsucht nach dem Abschluß, nach der ablösenden Ronde, nach dem Ende. Wie klingt sie heraus aus dem Lied der Jungen und Mädel:
„Wenn die Arbeitszeit zu Ende,
rüsten nach der Burschen Art
Samstag alle fleiß'gen Hände
zu der frohen Wanderfahrt.”
LeerWer die schaffende Arbeit kennt, der weiß von der Freude auf das Ende. Denn das gesunde Leben will den Wechsel, den Rhythmus haben. Erst wenn der abschließende Taktstrich zwischen die Noten tritt, wird die lebendige Melodie. So sei uns gegrüßt, du Samstagabend, mit deiner Botschaft vom Ende! Dein Schlußstrich tut das Tor auf, daß die Gottesmelodie in unsere Arbeit ströme.

LeerDie Gottesmelodie! Denn darin liegt das Geheimnis der Botschaft vom Ende, daß in ihr die Freude und der dunkle Ernst sich seltsam mischen, wie immer, wenn das Göttliche in diese Welt tritt. Wir sehnen uns nach dem Ende, und wenn es da ist, läßt es uns plötzlich innehalten, als habe ein Klang aus einer fernen Stille unser Ohr gerührt. Wie heiß haben wir uns in unseren jungen Jahren nach jenem Tage gesehnt, an dem endlich sich die Pforten der Schule hinter uns schließen würden! Wie haben wir die dahinschleichenden Tage, ja Stunden gezählt, bis das ersehnte Freiheitstor sich öffnen sollte! Und als wir dann zum letztenmal die Treppe hinuntergingen - was war das für eine Bedrängnis, die unsere Schritte hemmte, die uns fast gewaltsam zurückreißen wollte: „Noch nicht!” Dies Zurückschauen in der Stunde, in der das heiße Vorwärtsschauen von Jahren seine Erfüllung findet, dies aufsteigende Zittern aus der dunklen Tiefe, wenn alles in uns Freude jubelt über das gewonnene Ziel - wer will es erklären? Es ist das Geheimnis des Endes.

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LeerUnd dies Geheimnis bleibt, auch wenn wir von vielen Dingen und Arbeiten und glücklichen Stunden und schweren Lasten das Ende erlebt haben, auch wenn unser Herz reifer und fester und abschlußgewohnter geworden ist. Warum legen wir noch heute jede Arbeit, die wir mit heißen Mühen zu Ende brachten, nur so zögernd aus der Hand? Was ist die Unvollendung, die wir darin fühlen, anderes als die immer wieder neu erlebte Unmöglichkeit, zum Ende Ja zu sagen? Woher dies Gefühl bei jedem Abschied von einem Stück unseres Lebens, an dem unser Herz beteiligt war, daß es das Letzte noch nicht erfüllt habe?

LeerWir wollen uns ersehnen das Ende, und wir wollen es doch nicht und fürchten uns davor. Auch die letzte Lebensreife kennt noch diesen Zwiespalt. Wenn die Lebenskraft erschöpft und die Lebensfreude erloschen ist, dann weiß wohl das im Leiden gereifte Herz, daß das Ende die Erlösung, das letzte große Geschenk ist. Und doch, wenn der große Abschied von Sonne, Mond und Sternen näher und näher rückt, dann klammert sich dasselbe Herz an jede Minute, in der der Lebensstrom noch rinnt. Es bleibt der bedrängende Gedanke, daß ein Letztes noch nicht erfüllt ist. Auch wenn der große Ozean der Ewigkeit durch Gottes Gnade alles Dunkel verloren hat, bleibt dieses letzte Zittern vor dem Ende. Auch der große Lebenskämpfer, der in Ketten die reine Sehnsuchtsfreude kannte, „abzuscheiden und bei Christi zu sein”, hat dieses letzte „Noch nicht!” gehört, weil noch ein Letztes seines Lebenswerkes unvollendet geblieben sein könnte. Und kannte nicht auch Christus dieses Zittern vor dem „Ende”? -

LeerDaß wir dieses Zwiespalts Herr werden, darin liegt eine wesentliche Seite unseres Lebenskampfes. Das ist der Segen des Samstagabends, daß er uns immer wieder vor das Ende stellt und uns zwingt, im kleinen Ausschnitt aus dem Lauf des Lebens uns vor die Frage zu stellen, die einst über das Ganze unseres Lebens entscheiden soll. „Bedenke das Ende!” Der letzte Abend der Woche ruft es uns still und gütig immer von neuem in die Seele, damit sie sich beizeiten auf die Stunde bereite, in der das „Ende” in seiner letzten Wirklichkeit vor ihr stehen wird. Der Samstagabend fordert seine stille Feierstunde, daß des Lebens tiefster Zwiespalt seine Einheit suche, daß Hoffnung und Furcht, Sehnsucht und Zagen zu dem Frieden emporgehoben werden, der höher ist als alles menschliche Denken, das immer im Zwiespalt bleibt.

LeerWas für eine Wohltat liegt darin, daß die letzte Feierstunde der Woche immer wiederkehrt, als wolle sie uns sagen: „Du entrinnst mir nicht!” Dein Wollen und Wünschen, dein Zagen und Zaudern hält das Ende nicht auf. Auch der arbeitsreichsten und sorgenvollsten, auch der glücklichsten und erlebnisgewaltigsten Woche ist der Abschluß bestimmt. Den Zwiespalt in unserer Seele zu lösen, nimmt eine höhere Macht uns ab. S i e   s c h i c k t   d a s   E n d e. Darin liegt ihre Güte und ihr Ernst, und beides steht nicht mehr im Widerspruch, sondern klingt zusammen in dem feierlichen Machtspruch, der alle Gedanken zur Ruhe bringt: „Ich will es!”

    So wird unsere kleine menschliche Ordnung des Wochenschlusses zum Hinweis auf die große göttliche Ordnung. Es ist gut, daß wir nicht zu bestimmen haben, wann die Kindheit aufhört und die Mannesarbeit beginnt und der letzte Ruf an uns erschallt. Bereitsein ist alles! Das ist die verborgene Lebensweisheit, die uns das Ende kündet.

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LeerGlücklich die Menschen, die die Botschaft vom Ende gehört haben! Ihr Leben ist Tat, nicht die Tat des raffenden Händlers - wie kann man raffen und sammeln, wo doch alles das Zeichen des Endes trägt!, nicht auch die Tat des Festungsbauers - nicht Mauern und Schlösser sind sicher, sicher ist nur das Ende!, nicht auch die Tat des Wettspielers, der um die Gunst der Stunde buhlt - um welche Gunst des Schicksal lohnte es sich zu buhlen, da wir hier doch keine bleibende Statt haben! - sondern  T a t   d e r   V e r a n t w o r t u n g, die Antwort ist auf die Botschaft vom Ende.

LeerNur die Menschen, die vom Ende wissen, können verantwortlich schaffen. Sie wissen, daß jede Stunde uns nur einmal gegeben ist, daß sie auf das Letzte hindrängt, und darum das letzte fordert; daß sie uns von Gott geschenkt ist und ihm zurückgegeben werden muß. Sie wissen, daß dies Leben ein Übergang ist, aber eben darum höchste Spannung fordert: Der Herr des Lebens kann jede Stunde kommen und die Schlußrechnung ziehen.

LeerNur die Menschen, die vom Ende wissen, können in Ruhe wirken. Sie haben das Ende hineingenommen in ihre Arbeit, es ist „mitten unter ihnen”. Die Freude auf das Ende und das Zagen vor ihm sind ihre täglichen Begleiter zur Rechten und zur Linken, und eben darum gewinnt ihr Leben das Gleichgewicht, das durch die Wechselfälle des Tages nicht mehr gestört werden kann. Weil in ihnen beides ist, die Furcht und die Liebe, darum ist ihre Grundhaltung das Vertrauen.

LeerNur die Menschen, die vom Ende wissen, können über den Tag hinausschauen. Weil sie das Ende aller Dinge kennen, haben die Anliegen dieser Welt für sie den Eigenwert verloren. Sie haben eine vorübergehende Bedeutung, um einem letzten Ziele zu dienen. Durch die Vergänglichkeit aller Dinge schimmert der ewige Sinn.

    Darum können nur die Menschen, die vom Ende wissen, fröhlich ihre Straße ziehen. Daß sie Wandernde sind, die immer wieder Abschied nehmen müssen, das eben ist ihnen der tiefste Hinweis darauf, daß ein bleibendes Ziel ihrer wartet. Das ist die Schönheit des Samstagsabends, daß er in seiner Botschaft vom Ende die Gewißheit birgt, daß morgen Sonntag ist.

LeerNur die Menschen, die das Ende kennen, wissen es, daß alles Leben ein Anfang ist. Je tiefer das Ende erlebt wird, desto reiner leuchtet die Sonne des neuen Lebenstages, in dem der Tod nicht mehr sein wird.

LeerDer letzte Abend der Woche trägt einen tiefen Frieden in seinem Schoße. Wohl steht er auf der Grenzscheide, über die wir Menschen in diesem Leben nicht hinauskommen. Ganz wird der Zwiespalt, den seine Botschaft vom Ende in unsere Herzen wirft, auf dieser Erde nicht zum Schweigen kommen. Aber er schenkt uns den Blick in das gelobte Land, in dem aller Zwiespalt gelöst sein wird: Morgen ist Sonntag!

Das Gottesjahr 1926, S. 117-121
© Greifenverlag Rudolstadt (Thür.)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-12
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