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Selig sind, die da Leid tragen
von Marie Cauer

LeerEs ist schon sehr lange her, und ich war noch eine Anfängerin in meinem Beruf, als in einem fremden Kurort ein junger Schwindsüchtiger meiner Pflege anvertraut wurde. Daß es unaufhaltsam mit ihm zu Ende ging, zeigte sich so deutlich, daß es sogar meinem unerfahrenen Auge nicht verborgen blieb. Und auch der Kranke selbst spürte wohl, welchen Weg es mit ihm gehen wollte. Es bestand darüber ein stilles Einverständnis zwischen uns, das keiner Aussprache bedurfte. Als nun aber, da es immer weiter bergab ging, auf einen Wink des Arztes Mutter und Bruder zum Besuch kamen, da zeigten diese zu meinen größten Staunen sich voller Hoffnungen: Sie plauderten von der Zukunft und malten sich allerlei Schönes dafür aus. Und das war nicht etwa Verstellung, dem Kranken zuliebe, sondern auch, wenn er gar nicht dabei war, schien kein Zweifel an einer Besserung seines Leidens bei ihnen aufzukommen.

LeerMich aber beunruhigte diese Ahnungslosigkeit mehr und mehr. Denn es waren nicht etwa gleichgültige Angehörige, sie gingen liebevoll mit dem Kranken um und taten ihm zu Gefallen, was sie nur wußten. Eben ihre große Liebe - so meinte ich - hinderte sie die Wahrheit zu sehen, weil diese zu schrecklich für sie sein würde. Wenn dann aber einmal das unvermeidliche Ende hereinbrechen würde, ohne daß sie vorher an diese Möglichkeit gedacht hätten, das mußte ja einen geradezu vernichtenden Schlag geben. Durfte man es denn dahin kommen lassen? Konnte man das verantworten?

LeerDieser Gedanke plagte mich so, daß ich mir endlich ein Herz faßte, und dem Arzt meine Befürchtungen mitteilte mit der Bitte, er möchte doch seinerseits die guten Leute vorbereiten. Ich sehe noch das wissende väterliche Lächeln mit dem der freundlich alte Herr mein Ansinnen abwies. „Wer es wissen wollte,” sagte er, „der wüßte es nun schon aus dem, was er selbst sieht, und was ich bisher sagte. Wer es aber nicht wissen will, dem könnte ich es auch nicht zeigen, wenn ich noch sehr viel deutlicher spräche.”

Leer„Grade so wie unzählige andere ihrer Art es schon ertragen haben”, sagte der Menschenkenner achselzuckend. Dann, nach einem Blick in mein verstörtes Gesicht, setzte er hinzu, indem er mir wohlwollend auf die Schulter klopfte: „Sie sind noch jung, liebes Kind. Haben sie erst einmal so viele Pfleglinge begraben wie ich, dann werden sie verstehen, wie ich das meine”.

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LeerHeute bin ich nun in dieser Lage.

LeerDamals erlebte ich es staunend zum ersten Male und seither noch oft, daß Menschen ein Leid, auf das sie zugehen, nicht sehen wollen; solange als irgend möglich verhüllen sie es sich, schieben die Nötigung es anzuerkennen, vor sich her, bis zu dem Augenblick, wo sie unmittelbar davon betroffen werden. Und wenn man dann meint, sie müßten schier zerbrechen unter der Last, die so jählings auf sie herunterfällt, dann sieht man, daß sie es fertigbringen, doch auch irgendwie wieder drunter hervorzuschlüpfen und darüber wegzusteigen. Es gibt vielleicht ein kurzes Wehren, einen unbeherrschten Ausdruck des Schmerzes, vielleicht auch nicht, dann fügen sie sich in das Unabänderliche und haben das Bedürfnis sich glimpflich damit einzurichten, sich ihr Lebensgefühl möglichst wenig dadurch stören zu lassen.

LeerDaß wir durch ein Leid uns aus der Bahn werfen, uns ganz davon beherrschen lassen, das kann ja auch nicht Gottes Wille sein. Der Schmerz darf nicht unser vornehmster Lebensinhalt werden, wir sollen nicht einen Götzen daraus machen und nicht genießerisch darin schwelgen. Es wäre Ichsucht, wenn unser Interesse und unsere Kräfte dauernd gefesselt blieben, wir müssen einen Rückweg finden zu unserer Mitwelt, zu den Aufgaben, die sie für uns hat. Aber es ist ein Unterschied, ob wir das tun, indem wir ergeben und entschlossen uns unter unser Schicksal stellen, seine Last uns auflegen und es mit hereinnehmen in unser Lebensgefühl, oder ob wir nicht wagen, ihm ins ernste Auge zu sehen und schwächlich uns beiseite drücken.

LeerNicht ganz wenige Menschen sind mir begegnet, denen es gelingt, in ihrer eigenen Lebensgeschichte die ernsteren Stellen und die traurigen Kapitel zu überschlagen. Und ich habe verstehen gelernt, daß darin ein instinktiver Selbstschutz der Schwachen liegt. Was sie doch nicht zu bewältigen vermöchten, das fassen sie erst gar nicht an, es bleibt ihnen verborgen. Die Fähigkeit, das Leid zu erkennen, wird bedingt durch die Fähigkeit, es zu tragen. Es findet da eine barmherzige Regulierung statt, die Stärke der Schultern bestimmt auch die Belastung.

LeerEinen Beweis ganz großen Stiles und zahllose Einzelbeispiele für diese Regel brachte uns der Krieg. Haben wir nicht fast alle uns hartnäckig gesträubt, den Ernst der Lage zu erkennen, geflissentlich uns mit Hoffnungen geschmeichelt und solcher Hoffnungen bedurft, um die Kraft zum Weiterleben zu bewahren? Und dann, als alle Hoffnungen zerbrachen und die harten Tatsachen unserer Niederlage uns unverhüllt vor Augen traten, ein wie beschränkter Kreis von Menschen war es da, der sie in ihrem ganzen Ausmaß zu erfassen vermochte! Die Mehrzahl trachtete danach, sich darüber hinwegzusetzen, nur das eigne, persönliche Schicksal einigermaßen erträglich zu gestalten, sogar oft auf Kosten des schon so hart betroffenen Gemeinwohles. Was da Ungeheures vor sich ging, blieb den meisten verborgen. Sie wären nicht imstande gewesen, es in seiner ganzen Schwere auf sich zu nehmen, und unter der Wucht dieser Last entschlossen weiterzuschaffen, und so blieb ihnen auch die Fähigkeit versagt, es überhaupt zu sehen.

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LeerEine Bestätigung für diese Erfahrung finden wir auch in der heiligen Geschichte. Immer von neuem hat Jesus versucht, seine Jünger auf das Ende vorzubereiten, das ihm bevorstand, und das die Seinen furchtbar treffen mußte. „Aber das Wort vernahmen sie nicht, und es war ihnen verborgen, daß sie es nicht begriffen.” (Lukas 9,45). Wie wenig sie es begriffen hatten, das zeigte sich wohl am deutlichsten im Garten Gethsemane. Wie hätten sie sonst entschlummern können! Und nun der Gegensatz dazu, der Herr, der sich klar bewußt ist, welches Schicksal ihm bevorsteht, und der in heißem Gebet sich die Kraft erringt, diesem Schicksal sehenden Auges gelassen entgegen zu gehen. Nichts wirft wohl ein helleres Licht auf den weiten Abstand Jesu von seinen Jüngern, auch den drei bevorzugten und ihm nächsten, als diese Erzählung. In unendlicher Einsamkeit steht er der ganzen Größe seines Leidens gegenüber; die zu ihm gehören, lassen in dieser schweren Stunde ihn allein.

LeerUnd auch wir machen in unserm so viel unbedeutenderem Erleben die Erfahrung, daß das Leid uns von unsern Mitmenschen, auch den nächsten und liebsten, trennt. Mit einem Andern leiden können Menschen immer nur in sehr beschränktem Maße, ganz abgesehen noch davon, daß die Empfindung, die landläufig mit dem Namen „Mitleid” bezeichnet wird, gar oft das Gegenteil von dem ist, was der Name sagt, und gerade den Unterschied fühlbar macht zwischen dem bedauernswerten Leidenden und denen, die anerkennen, es so viel besser zu haben.

Leer Je tiefer wir zu leiden vermögen, um so tiefer ist auch unsere Einsamkeit.

LeerAber je tiefer wir zu leiden vermögen, um so fruchtbarere Arbeit kann auch das Leiden an uns tun. Und hierin liegt nun ein befriedigender Ausgleich. Dem einen wird das, was er nicht ertragen könnte, eingehüllt in schonende Schleier. Dem anderen tritt sein Schicksal in unbarmherziger Klarheit vor Augen. Von ihm wird Schwereres verlangt, aber er wird auch reicher gesegnet. Deshalb muß der Vaterlandsfreund es ja so innig wünschen, daß die Mehrzahl der deutschen Menschen, daß unser Volk in seiner Gesamtheit endlich den Mut und den Ernst aufbringe, sein Schicksal klar zu erkennen und bewußt sich darunter zu stellen!

LeerEntspricht aber unserm Vermögen zu leiden unser Vermögen zu wachsen, so liegt hier der Maßstab für eine sittliche Rangordnung: Des Menschen Schmerzen sind der Adelsbrief seiner Seele. Und deshalb: Selig sind, die da Leid tragen.

Das Gottesjahr 1926, S. 111-113
© Greifenverlag Rudolstadt (Thür.)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-12
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