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Der Kreuzweg
von Ernst Ortloph

LeerDer englische Maler Holman Hunt hat ein Bild gemalt, Christus darstellend, wie er in heiliger Verzückung Hände und Antlitz zum Himmel emporhebt; das helle Sonnenlicht trifft die aufwärts gerichtete Gestalt und wirft an die rückwärtige Wand den Schatten und siehe da, es zeichnet sich ab - die Gestalt eines Gekreuzigten.

LeerDies Schicksal Christi ist das Schicksal des Menschen. Du hebst deine Hände auf in Wonne und Luft des Lebens, du wirst sie bald aufheben, um das bittere Holz zu umfassen, das Kreuz.

LeerDas Kreuz ist ein unentrinnbares Stück der Erdenwirklichkeit und der Kreuzweg ein Stück unseres Erdenweges. Wir kennen alle von katholischen Gegenden her den Kalvarienberg, wo die Stationen des Kreuzwegs die Höhe hinansteigen und droben zum letzten Leiden und letzten Überwinden führen. Indem wir andachtsvoll die Stufen hinaufschreiten und von Bild zu Bild unseren gequälten Bruder Jesus begleiten, schauen wir unser Menschenschicksal und unsere Menschenaufgabe.

LeerSo treten wir mit den Augen, die im Bild das Wesen erkennen, vor die erste Station. Da trägt er das Kreuz, tief gebeugt unter das schwere Holz, dessen Kanten sich in die Schulter eingraben. Das Kreuz sind zwei scharf und erbarmungslos sich schneidende Linien. Das ist das Wesen der Welt, der schneidende Widerspruch. Es ist die erschütternde Erfahrung, die furchtbare Tatsache des Lebens, daß die Welt unserem innersten Wesen zuwider ist. Schonungslos streicht sie durch, was unser wahrer Mensch möchte, spottend zerreißt sie in ihrer harten Realität unser Wünschen und Sehnen, sie ist immer das Gegenteil dessen, was sein sollte. Wenn wir dies Wesen der Welt inne werden, dann entsteht das Zeichen des Widerspruchs, das Kreuz. Christus hat sein Kreuz tragen müssen, weil die harte Welt um ihn her, diese Welt Jerusalems, die Welt der Priester und Landpfleger und der Volkshaufen in einem letzten, unausgleichbaren Widerspruch zu seinem Wesen stand.

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LeerSo wird uns die irdische Körperlichkeit zum Kreuz, wenn die Schwachheit und Gebrechlichkeit oder auch Dumpfheit und Schwere der Materie den Geist niederdrückt und wie in einem Kerker gefangen hält; so wird uns die Arbeit zum Kreuz, wenn sich an dem Widerstand plumper Mächte unsere beste Kraft zermürbt und die Gemeinheit unsere lautere Absicht mißdeutet und verhöhnt; so werden uns Menschen zum Kreuz, an die wir bei innerer Fremdheit und gegenseitigem tiefsten Nichtverstehen doch gebunden sind; so werden wir selbst uns zum Kreuz, wenn wir das andere in uns, das und Fremde, den bitteren Widerspruch der doppelten Natur erfahren. Das Kreuz aber will getragen, das heißt: bejaht sein. Den Widerspruch der irdischen Sichtbarkeit gegen unsere geistige Wirklichkeit, diesen Widerspruch, der durch alles Geschaffene, auch durch uns selbst hindurch geht, gilt es zu durchleben. Das ist der Kreuzweg, der sich täglich vor uns auftut, gerade je mehr der geistige Mensch in uns erstarkt.

LeerWir stehen vor der zweiten Station. Von gefühllosen Fäusten gezerrt geht Christus seinen blutigen Weg. Siehe, da steht das Mitleid am Weg und ringt die Hände. Die Frauen von Jerusalem beweinen und beklagen sein jammervolles Geschick. Es ist nicht viel, dies Mitleid, und ist doch etwas. Es tut wohl, wenn nichts anderes möglich ist, wenigstens Verständnis und Mitgefühl bei anderen Menschen zu spüren. Es drückt uns ein Bruder, eine Schwester die Hand und sagt mit wortlosem Blick: Ich verstehe dich, ich weiß, was du leidest. Eine Gemeinschaft spinnt sich von Seele zu Seele, man ist doch nicht mehr allein in der Nacht des Schmerzes ein Mit-leiden ist da. Sieh da, was zeigt das Bild? Veronika hat mit ihrem Tuch die Stirn des Herrn vom Schweiß getrocknet und das leidvolle Angesicht hat sich dem Tuche eingeprägt. So ruht das Bild unseres Leidens in einer andren Seele, die uns liebt, die mitträgt und mit uns hineinschaut in die dunklen Tiefen der Welt. Aber auch du, wenn du fröhlich und glücklich bist, gehe nicht an dem leidenden Bruder vorbei. Die Grausamkeit der Glücklichen, die das Mitleid nur als Lebenshemmung und Aufenthalt auf ihrer lachenden Bahn empfinden, ist etwas Furchtbares. Bleibe einen Augenblick bei dem Unglücklichen am Wege stehen und sinne: Wer weiß, wie bald stehst du an seiner Statt. Bleibe stehen und drücke ihm die Hand: Ich verstehe dich, mein Kreuzesbruder. Auch ich bin ein Mensch und trage mein Kreuz, mein Kreuzesbruder.

LeerAuf, eine Stufe höher zur dritten Station! Sieh, da tritt der helfende Bruder zu Christus. Der Mann aus Kyrene nimmt ihm das Kreuz ab und trägt es auf seiner Schulter. Das ist mehr als Mitleid, das ist helfende Tat. Gesegnet sei die Hand, die sich ausstreckt nach fremdem Leid, gesegnet die Schulter, die sich beugt unter fremdes Kreuz! Dazu sind wir Menschen geschaffen, daß wir eine Gemeinschaft nicht nur der Freude, sondern auch des Schmerzes aufrichten. So tat jener Straßburger Professor der Theologie, der in den afrikanischen Urwald an die Ufer des Ogowe ging, um dort als Arzt das tausendfältige Krankheitselend der Schwarzen mitzutragen.

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LeerIn der Willigkeit, das fremde Leid zum eigenen zu machen, zeigt sich am reinsten die völlige Opferbereitschaft der Liebe. Und das freiwillig getragene fremde Kreuz hat einen Segen besonderer Art. Es finden sich Andeutungen in der Bibel, daß jenem Simon von Kyrene der Weg nach Golgatha, den er unter dem Kreuz Jesu ging, nicht ungelohnt blieb. Es trägt niemand fremdes Leid in selbstloser Liebe mit, dem es nicht durch inneres Reifen reichlich vergolten wird. Siehe so manche zu edelster Menschlichkeit gereifte Persönlichkeit an: Wodurch ist der Mensch zu der ernsten und doch zarten Güte, zu der tiefblickenden Weisheit, zu der Versöhntheit mit dem Schicksal gekommen? Dadurch, daß er viel fremdes Kreuz mitgetragen hat. Der Dienst des Mannes von Kyrene darf zu unserer Vollendung nicht fehlen.

LeerDas vierte Bild steht vor unserem Blick. Nun ist der helfende Bruder wieder gewichen, der Kreuzträger wieder allein. Im letzten Grund mußt du dein Leid doch allein tragen. In der letzten Tiefe kann dir kein Mensch helfen. Und diese Tiefe naht nun. Die Knie wanken, das Herz hämmert in wilden Schlägen, ein lautes Stöhnen - und der gequälte Leib stürzt zusammen. Nicht allen Kreuzträgern ist diese vierte Station beschieden, sondern den von Gottes heiligem Willen dazu Erwählten. Manch anderem wendet sich der Weg vorher zur Erlösung und Freiheit. Diese aber sind es, die die Höhe des Leidensberges ersteigen müssen. Da kommt der Augenblick, wo die Kräfte, die bisher in zäher Ausdauer gerungen haben, versagen. Die ganze menschliche Schwachheit bricht auf, ein armer Wurm krümmt sich am Boden unter der Geißel des Schicksals. „Kann denn nichts, gar nichts erspart werden? Muß denn der bittere Trank bis zum letzten Tropfen getrunken sein? Mein Gott, hast du mich ganz verlassen?”

LeerNein, es kann nichts erspart bleiben! Noch einmal auf von der Erde auf die zitternden Füße! Empor zur letzten Höhe, zum letzten Kampf! Nun ist das arme Leben völlig dem Feind ausgeliefert. Mit ausgespannten Gliedern hängt es nun an dem Kreuz, das es bisher getragen. Der letzte Rest von Aktivität ist aufgelöst in Passivität, in stumpfes, regungsloses Dulden des Entsetzlichen. Wehrlos, mit starren, weitgeöffneten Augen blickt die Seele in die Nacht, die alles verschlingt. Das ist nicht mehr Kreuztragen, sondern Gekreuzigtsein. Mit stockendem Puls wird der letzte Kampf gekämpft - und der letzte Sieg errungen. Der letzte Sieg heißt Liebe. Mit brechender Stimme kommen Worte der Liebe von den Lippen des Gemarterten, der Liebe zu den Brüdern und der Gottesliebe. Mit den letzten klaren Gedanken umspannt er liebend die Welt, die ihn kreuzigt, mit dem letzten starken Willen den Gott, der ihn hingegeben hat in die Qual.

LeerDer letzte Kampf und die letzte Liebe, das ist die letzte Station des Kreuzwegs, die Höhe des Kalvarienberges. Wer in der äußersten Qual der Leiden nicht von der Bitterkeit und Verzweiflung überwältigt wird, sondern der Liebe zu den Brüdern treu bleibt, und am meisten zu denen, die ihm die Qual antun, wer mitten in der erbarmungslosen Gottverlassenheit den Gott noch liebend umfaßt, der ihn kreuzigt, der hat den heiligen Sinn des Kreuzweges erfaßt und ist in das Allerheiligste des göttlichen Ratschlusses eingetreten. Der Strahl der scheidenden Sonne umleuchtet auf der Höhe von Golgatha das sinkende Haupt und umwebt es mit Himmelsglorie. Ein letzter Kampf, eine letzte Liebe, ein letzter Sieg. Das Ende des Kreuzwegs ist der Anfang des Himmelfahrtsweges.

Das Gottesjahr 1926, S. 107-110
© Greifenverlag Rudolstadt (Thür.)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-12
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