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Der Irrweg
von Ludwig Heitmann

Der Anfang, das Ende, O Herr, sie sind dein!
Die Spanne dazwischen, das Leben, war mein.
Und irrt' ich im Dunkeln und fand mich nicht aus -
Bei dir, Herr, ist Klarheit, und Licht ist dein Haus.
Fritz Reuter.

LeerAdel und Fluch des Menschen liegen darin beschlossen, daß er irre gehen kann, vielleicht gar irre gehen muß. Hier liegt das letzte Geheimnis der Welt, hinter das wir Menschen niemals dringen werden. Aber die Erfahrung liegt vor aller Augen und wird von uns allen unter Schmerzen immer neu durchlebt: Irren ist Menschenschicksal.

LeerMan darf nicht anfangen, darüber zu grübeln, wie diese furchtbare Tatsache mit dem guten, gnädigen Vaterwillen, den wir glauben, vereinbar sei. Dies Geheimnis ist uns gesetzt, damit wir dem letzten Willen der die Welt regiert, nicht allzu vorwitzig mit unserm Verstande nahen. Es ist die Schranke, die Gott zwischen sich und die Menschen gesetzt hat, damit wir Distanz halten. Wir wüßten auch nicht, was Glaube ist, der, alles ü b e r greifend, nicht b e greifend, den faßt, der im Himmel wohnt, wenn diese Schranke nicht wäre. Wir kennten nicht den Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit, die wirklich satt macht, wenn nicht der Irrweg mit seinem dunkeln Abgrund neben unserm Leben läge.

LeerNicht darin, daß wir Menschen immer wieder einzelne Fehltritte und Irrgänge tun, liegt das schwere Geheimnis. Wenn es sich nur um sie handelte, dann könnten wir zu unsern aufgeklärten Vätern gehen und uns von ihnen den tapferen Sinn geben lassen, um mit diesen Seitensprüngen unseres Lebens fertig zu werden. Wir wollen sie gewiß nicht gering achten oder auf die leichte Achsel nehmen, denn der größte Teil unserer äußeren Lebensarbeit besteht darin, Irrtümer zurechtzustellen, Dummheiten wiedergutzumachen, falsche Berechnungen auszugleichen. „Es irrt der Mensch, solang er strebt.”

LeerDies Irregehen an der Oberfläche des Lebens gehört - darin müssen wir unsern Vätern Recht geben - zu den gesunden und notwendigen Erfahrungen jedes Menschenlebens. Es ist eine wohlbegründete Praxis einer lebensfrischen Pädagogik, junge Menschen durch kräftige Irrtümer laufen zu lassen, damit sie um so sicherer den Weg der Wahrheit finden und festhalten können. Es ist ein philiströses Menschentum, das die Jugendbewegung darum verurteilt, weil sie durch viele Irrtümer gelaufen ist, die angeblich längst abgetan waren. Die Lebenssicherheit, mit der wir unserer Tagesarbeit gegenüberstehen, verdanken wir alle unseren Irrwegen. Wer sich nicht mehr als einmal gründlich verlaufen hat, wird niemals Kompaß und Karte richtig benutzen lernen.

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LeerEs liegt insbesondere im Wesen unseres Volkes, daß es sich grundsätzlich nur solchen Wahrheiten beugt, die ihm aus dem Bankrott des Gegenteils aufgegangen sind. Es hat sich mehr als einmal zugrunde gewirtschaftet, um einen hartnäckig festgehaltenen Irrweg bis zum Ende zu gehen. Es ist seine Naturanlage, daß es die Wahrheiten, die es dem Leben abringt, aus dem tiefsten Grunde und den schmerzlichsten Erfahrungen heraufholen muß. Dieser Naturanlage wollen wir uns dankbar freuen und insbesondere unserer Jugend die Freude an den Irrfahrten des Odysseus nicht mißgönnen, auch wenn sie immer wieder unglaubliche Umwege macht. Solange die Abwege unseres Lebens in den Entschluß münden, es nun endlich richtig zu machen, ist nicht nur nichts verloren, sondern alles gewonnen, nämlich das eine, was wir für unsere Lebensarbeit brauchen: Erfahrung. So ist die Weisheit unserer Väter aus dem Jahrhundert des Optimismus für den Tag noch sehr brauchbar: „Sollt aller Irrtum ganz verschwinden, so wär' es schlimm, ein Mensch zu sein.”

LeerAber dies alles bewegt sich auf einer Ebene, die noch gänzlich oberhalb der Lebenserfahrung liegt, in der der Irrweg sein düster-schicksalsschweres Geheimnis offenbart. Seine dunkle Tiefe fangen wir an zu ahnen, wenn uns eine erschütternde Stunde der Erkenntnis eines Irrweges überführt, der nicht wieder zurückgegangen werden kann. Der Weg unseres Lebens hat seine strenge Ordnung. Jedes Lebensalter trägt in sich die von dem Schöpfer bestimmten Aufgaben und Gelegenheiten. Unter aller Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten, die jedem Menschenleben gegeben sind, liegt eine letzte Einmaligkeit, die erfüllt sein will.

LeerWie nun, wenn dieses Eine nicht gesehen und nicht erfüllt wurde? Wenn an den Kreuzwegen unseres Lebens der eine Weg verfehlt wurde, an dem Gott stand? Wenn die Zeit des Lernens eine Zeit des Tändelns war? Wenn der Kampf der Jugend nicht ernst genug genommen wurde? Wenn das werdende Manneswerk die Hochspannung der Seele vermissen ließ, die es forderte? Wenn im dumpfen Kampf der dämonischen Gewalten gegen die Stimme des Gewissens das Fleisch stärker war als der Geist? Wenn die Opfer nicht gebracht wurden, die die Pflicht der Liebe von uns forderte?

LeerHier hört die Durchschlagskraft der optimistischen Weisheit unserer klassischen Denker auf. „Der Irrtum verhält sich gegen das Wahre wie der Schlaf gegen das Wachen. Ich habe bemerkt, daß man aus dem Irren sich wie erquickt wieder zu dem Wahren hinwendete.” Dies Lebensbekenntnis unseres großen Dichters, der so glatt von dem „Irrweg” des ersten Faustteils in das Vergessen des zweiten hinübergleitet, reicht hier nicht aus. Das Erwachen aus solchem Irrwege ist alles andere als Erquickung nach gefundenem Schlaf. Es ist das Erschrecken vor der letzten Tiefe: „Der Übel größtes ist die Schuld.”

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LeerGibt es eine Erlösung aus solchem Irrwege? Nicht vom Menschen her. Denn dieser Weg kann nicht zurückgegangen werden. „Ewig still steht die Vergangenheit.” Das dunkle Geheimnis kann nur durch ein anderes Geheimnis seine Lösung finden. Das aber ist das Geheimnis der Stunde, in der wir des Irrweges überführt werden, daß da wieder Gott am Wege steht, den wir damals übersahen, als unser Schritt in die Irre ging. Er kann den Irrweg wandeln in den Weg des Heiles. Er kann die Trauer über das, was nie zurückgewonnen werden kann, umwandeln in die Freude über das, was nicht wieder verloren gehen kann. Durch unsere menschlichen Irrwege prägt er uns die Wahrheit in die Seele, daß seine Wege andere sind als unsere Wege. Im Dunkel unserer Irrwege öffnet er uns den Blick für seine Sternenbahn. Es ist ein neues Wandern, das nun seinen Anfang nimmt. Die menschlichen Pläne sind zerbrochen, Gottes Plan tritt nun in sein Recht. Wir kennen nun den Sinn des Wortes: „Des Menschen Herz schlägt seinen Weg an, der Herr aber allein gibt, daß er fortgehe.”

LeerDenn unter allen diesen Einzelerfahrungen des Irregehens in unserm persönlichen Leben liegt noch eine tiefere, allgemeinere Wahrheit, die das dunkle Geheimnis des Irrweges erst in seiner ganzen Größe offenbart, daß nämlich das Menschenleben, ja das Menschheitsleben als Ganzes dem Fluch des Irrweges untersteht. Diese Wahrheit wird dann sichtbar, wenn, wie durch einen jähen Blitz aus einer anderen Welt, plötzlich die Erkenntnis über das Ganze unseres Lebens zuckt, daß sein „Sinn” in eine verkehrte Richtung läuft. Es gibt Zeiten, in denen eine solche Erkenntnis auch nicht leise die Gemüter beunruhigt. Das Ganze des Lebens wird da als eine glatte Gleitbahn gesehen, die man nur recht kennen und benutzen lernen müsse. Wir leben noch mit einem Fuße in einer solchen vernünftig organisierten Welt. Aber mit dem andern Fuß schweben wir bereits über dem dunklen Abgrund. Wie eine furchtbare Erkenntnis beginnt es durch die Gemüter zu zucken, daß „wir alle in der Irre gehen”.

LeerÄußere Ereignisse - wie etwa der Krieg oder persönliche Katastrophen - können zur Auslösung dieser Erkenntnis einiges beitragen. Aber sie selbst erwacht aus anderen Tiefen, die sich unserer Beobachtung entziehen. Unmerklich und leise fängt sie an, das Leben zu durchfluten wie ein Gift, das nach und nach alle Lebensregungen lahmlegt und zu einer seelischen Leere führt, die das ganze Dasein als „sinnlos” empfindet. Die scheinbar noch gefunden, d. h. dem alten „Sinne” gehorchenden Teilgebiete des Lebens bäumen sich gegen diese Entleerung auf und suchen nun in krampfhafter, immer äußerlicher und gewalttätiger sich gebärdenden Betonung den alten „Sinn” zu behaupten. Wir können das in unserem Volke in immer neuen, tragischen Formen beobachten. Auf die Dauer ist dieser Kampf vergeblich. Die große Müdigkeit greift weiter und weiter um sich, bis die allgemeine Lähmung es unmißverständlich kundtut, daß der Irrweg Tatsache ist.

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LeerDas Furchtbare dieser Erkenntnis liegt darin, daß sie uns an dem innersten Lebenswillen aufgeht, dem bis dahin unsere heiligsten Gefühle galten. Daß der Mensch, seine Würde, seine Vollendung, seine ewige Bestimmung, seine Auswirkung und Darstellung in Taten und Formen der Menschlichkeit das Maß aller Dinge sei - dieser „heilige” Sinn, der eben ist es, der heute erschüttert wird. Dieses Menschentum und diese Menschenwürde erscheint mehr und mehr als bis in die Wurzeln hinein vergiftet. Noch betont die „neue Welt” jenseits des Ozeans, die das Leben der heutigen Kulturmenschheit geistig beherrscht, diese Menschenwürde in immer krasseren Formen, die aber die krankhafte Übersteigerung schon unmißverständlich verraten. Wer diesen „Optimismus um jeden Preis” antastet, findet bereits heute krampfhafte und überreizte Zurückweisung. Wer darf es wagen, diesen Glauben an das Menschentum, der uns seit Jahrhunderten von Erfolg zu Erfolg leitete, anzutasten?

LeerAber er wird angetastet, nicht von Menschen, sondern von einer unheimlichen Macht, die aus den Tiefen des Lebens aufsteigt und das Todeszeichen auf alle Werke der Menschenhand setzt. Daß dies alles, woran Menschen ihr heiligstes Wollen, ihr glühendes Geistesringen, ihre ganze Lebenskraft bis zur Erschöpfung hingegeben haben - ein Irrweg sei, wer kann es fassen?

    Aber wir müssen es fassen. Das „Ändert euren Sinn” ist das Schicksalswort unseres Jahrhunderts geworden. Denn ein neuer „Sinn” ist im Anzuge, vor dem der alte sterben muß; ein neuer Weg öffnet sich aus einer anderen Welt, der alle Menschenwege als Irrwege erweist.

LeerDieser große Irrweg, auf dem unser Leben heute dahingeht, wirft seinen Schatten auf alle kleinen Irrwege, in die unser Lebenstag uns hineinführt. Die „Humpel- und Puppensünden” sind nur Hinweise auf die eine große Grundsünde unseres Geschlechts, unter deren Fluch wir stehen. Wir sind eine Gemeinschaft des Irrwegs, dem Bergsteiger vergleichbar, der sich verstiegen hat und nun vorwärts und rückwärts keinen Ausweg mehr sieht.

LeerDenn auf diesem Irrweg des Ganzen gibt es vollends kein Zurück. Keine Menschenmacht kann unsern Kulturwillen, unsere Wirtschaftsentwicklung, unsere Völkerzersetzung rückwärts wenden. Ihr Riesenstrom wälzt sich vorwärts, und wir werden mitgewälzt.

    Aber über dem dunklen Abgrund, dem wir zuwandern, leuchtet eine ewige Sternenstraße auf. Der neue Sinn, der die Menschenwege ablösen will durch den Gottesweg, leuchtet schon heute aus dem dunklen Geheimnis und wirft auf unsere irren Pfade den Glanz einer anderen Welt. Der in den Abgrund stößt, ist auch der Retter aus der Tiefe.

Das Gottesjahr 1926, S. 64-67
© Greifenverlag Rudolstadt (Thür.)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-12
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