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Vom Beten
von Christian Geyer

LeerDas tiefste Elend des heutigen Menschen besteht darin, daß er nicht mehr beten kann. Damit bekundet er seine Gottverlassenheit. Eingesperrt in die Sinnenwelt und ausgeschlossen von dem Reich des Geistes, ist er kraftlos, hilflos und hoffnungslos. Nicht das ist das schlimmste, daß wir politisch und wirtschaftlich zusammengebrochen sind, ja nicht einmal, daß wir moralisch Bankerott gemacht haben, denn das alles kommt zuletzt nur davon her, daß wir keine lebendige Religion mehr haben, das heißt daß wir nicht mehr beten können.

LeerWeshalb betet der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts nicht? weil ihm die Überwelt abhanden gekommen ist, in die er, betend, einkehren müßte. Ein wenig Rechnen mit der Möglichkeit, daß die Sinnesschranken vielleicht doch nicht die unverrückbaren Grenzen unseres Daseins seien, genügt nicht, um das Gebet als eine ganz natürliche Lebensäußerung hervorzubringen. Darum ist das Beten, soweit es im Volk vorhanden ist, nicht nur ein Restbestand aus einer vergangenen Zeit, wo der Himmel noch offen und ein Blick durch seine Pforte kein staunenswertes Wagnis war. Wohl, der Himmel muß, wenn er früher Wirklichkeit war, auch jetzt noch da sein. Aber vor lauter Schauen auf die sichtbaren Dinge sind uns die Seelenaugen für die geistige Welt erblindet. Wer nur sieht, aber nicht schaut, dem geht es wie dem Maulwurf, dem über dem Graben im dunkeln Erdreich das Organ für das Sonnenlicht erstirbt.

LeerWenn aber einmal der Beter und die Welt, zu der sich die Gebete aufschwingen sollen, voneinander getrennt sind, dann wird das Beten mit Notwendigkeit so matt, gefällig, eng und egoistisch, wir es eben ist. Es hat keine lebendige Seele mehr und man muß St. Martin recht geben, wenn er meint: „Wie sollte Gott nicht unseren Gebeten ferne sein, wenn wir selbst nicht dabei sind?” Selbst im Gottesdienst ist meistens die Predigt nicht der Vorläufer des Gebets als der heiligen Opferfeier der Seele, sondern eher ein schwacher Nachhall und nicht allzu hoch geschätzter Zusatz zu jener. Noch läutet die Glocke zum Vaterunser, aber dieses ist nicht der Höhepunkt, dem alles zustrebt. Noch hört man auch am Alltag das Gebetläuten, aber die Menschen, die sich dadurch zum Beten bewegen lassen, sind beinahe ausgestorben.

LeerSollte es nicht möglich sein, die Menschen zur Einsicht zu führen, daß sie auf das höchste Vorrecht ihres Menschentums verzichten, wenn sie nicht mehr beten ? Glaubt jemand, daß nur der Pfarrer etwa durch stets wiederholte Aufforderung das Volk zum Beten bringen könnte? Ich glaube nicht recht daran, es sei denn, daß inzwischen einmal von einem selber noch wirklich betenden Führer ein stilles, sanftes Leuchten ausgeht, das zu entzünden vermag.

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LeerNein, solange wir, in der engen Sinnenwelt lebend, diese für unsere ganze Welt nehmen, wird das Gebet nicht aus seinem Todesschlaf erweckt werden. Aber wenn wir wieder einmal einsehen und sehen, daß unsere Sinnenwelt nur eine Insel in dem Meer der Geisteswirklichkeit ist, wenn das, Gott sei Dank!, morsch gewordene Weltbild der naturwissenschaftlichen Denkweise zerbricht und wir die geistige Welt als unsere wahre Heimat erkennen, dann werden wir wieder das Beten lernen.

LeerUnd auch dann wird vielleicht die Gebetsglocke aus einer ganz anderen Richtung ertönen. Das ist mir jüngst recht anschaulich geworden, als ich mit einem richtigen Weltmenschen ins Gespräch kam und er mir zu meiner Verwunderung erzählte, daß er heute das Johannesevangelium zum zwanzigsten Male zu Ende gelesen habe. Auf meine Frage, wie er dazu gekommen sei, erwiderte er mir, er habe vor einigen Jahren gespürt, daß er innerlich herunterkomme, wenn er, wie bisher, nur immer von Morgen bis Abend sein Geschäft treibe und Geld verdienen wolle. Da habe er sich entschlossen, jeden Tag eine halbe Stunde früher aufzustehen. In dieser halben Stunde wollte er seine Seele nähren. Da las er zuerst schöne Gedichte und allerlei aus den Klassikern. Und als ihm jemand einmal das Johannesevangelium rühmte, nahm er dieses vor, las täglich einige Verse und dachte darüber nach. Das bewährte sich ihm so gut, daß er dabei blieb. Und so las er es ganz langsam zwanzigmal zu Ende. Je öfter er es las, desto mehr hörte er innerlich die Gottes- und Christusstimme. Darüber aber änderte sich viel in seinem Leben. Es ging besser mit dem Personal und in der Familie, und auch das Geschäft litt nicht. Nun aber versäumte er es nicht, andern zuzureden, es auch mit der Methode zu probieten, die sich bei ihm bewährt hatte. Vielleicht werden solche Erfahrungsmenschen das zustande bringen, was uns Pfarrern nicht gelingt? Jedenfalls wollen wir uns, wenn es so gehen sollte, neidlos darüber freuen.

LeerAber, so denkt jemand, ist denn das Gebet? Ja, allerdings, das ist sogar ein besseres, als was wir meistens so nennen. Denn wenn wir mit Gott beisammen sind, ist es wichtiger, daß wir ihn hören, als daß wir das Wort führen. Und wenn sich alsdann, aus diesem Hören ganz natürlich auch unser Sprechen zu Gott erhebt, wird auch dieses stark, weit, frei und selbstlos sein. Hörend und redend siedeln wir uns an in der Gotteswelt, und wenn wir die Luft dieser unserer Heimat wieder atmen, leben wir und freuen uns unseres Lebens.

Das Gottesjahr 1923, S. 41 - 44
Hrsg. Walther Kalbe
© Greifenverlag Rudolstadt (Thür.)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-07
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